Den Tod im Blick- Numbers 1

Titel: Den Tod im Blick- Numbers 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Ward

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Edgeware Road und fanden dort bald einen Durchgang, der uns zum Kanal führte. Endlich waren wir fort von den Menschen. Alle Kraft hatte mich verlassen, meine Beine gaben nach.
    »Ich muss mich setzen«, sagte ich erschöpft und sank auf eine kaputte Bank. Eine Holzlatte fehlte. Es war ein Gefühl, als ob du jeden Moment durchrutschen würdest. Spinne setzte sich neben mich.
    »Du hast echt ’ne komische Farbe, Mann. Steck den Kopf zwischen die Beine oder irgendwas.«
    Ich beugte mich vor, als sich plötzlich ein Rauschen in meinen Ohren breitmachte. Innen im Kopf wurde alles erst rot und dann schwarz.
    »Hey, beruhig dich, Mann.« Ich hörte Spinnes Stimme von ganz weit weg, am andern Ende des Tunnels. Als ich die Augen öffnete, sah ich alles verkehrt rum. Ich brauchte eine Weile, bis ich kapierte, dass ich lag. Die Bank bohrte sich in mich, mein Kopf lag auf einem Kissen, das stank, aber weich war: Spinnes Pullover. Er lief den Treidelpfad auf und ab, schüttelte den Kopf, schnippte mit den Fingern und murmelte leise vor sich hin.
    »Hey«, sagte ich fast ohne Ton in der Stimme. Er blieb stehen und hockte sich neben mich.
    »Alles in Ordnung, Mann?«, fragte er.
    »Glaub, ja.«
    Er half mir, mich langsam aufzusetzen, dann setzte er sich zu mir auf die Bank. Ich zitterte. Er schnappte sich den Pullover und hielt ihn mir hin: »Hier. Zieh ihn an.«
    »Nee, ist schon okay.« Ich wollte dieses ranzig riechende Teil nicht an mir, auf meiner Haut. Ich zitterte wieder und er griff hinter mich. Ich wusste nicht, was er vorhatte, und war schon drauf und dran, ihm zu sagen, er solle das lassen, als ich merkte, wie er mir den Pullover über die Schultern legte. Mich irgendwie einwickelte. Was mich an meine Ma erinnerte, wie sie auf dem Sofa eine Decke um uns beide legte und wir uns einkuschelten, weil die Wohnung so kalt war. Das war an einem ihrer guten Tage gewesen. Irgendwas stach mir in den Augen: Es juckte, brannte, ganz heiß. Es lief raus und rann mir über die rechte Wange. Scheiße, ich flennte. Ich wein sonst nie. So was tu ich einfach nicht. Ich schniefte schwer und wischte mir mit dem Handrücken übers Gesicht.
    »Erzählstes mir jetzt?«
    Ich blickte starr auf den Boden vor mir. Spinne war das Nächste an Freund, was ich je gehabt hatte. Konnte ich ihm vertrauen? Ich holte tief Luft.
    »Ja«, sagte ich. Und erzählte.

KAPITEL 10
    Es lag Schweigen zwischen uns – keine Leere, sondern ein Raum voller Gedanken und Gefühle, unausgesprochener Worte und Emotionen. Wir saßen da, während achthundert Meter weiter London im Chaos versank: heulende Sirenen, Autohupen, Hubschrauber, die kreisten. Ich fühlte mich wie betäubt – immer noch schwindlig von dem, was passiert war, und schockiert, dass ich jemandem davon erzählt hatte. Mein Körper und mein Kopf waren überall. Ich hatte Spinne keine Sekunde lang angesehen – den Blick die ganze Zeit am Boden, während die Worte aus mir herauskamen. Es war so unwirklich, als ob jemand anderes spräche.
    Er hatte nach vorn gebeugt dagesessen, die Arme auf die Knie gestützt, und zugehört. Wahrscheinlich hatte ich ihn noch nie so still erlebt. Schließlich atmete er aus, einen langen Atemzug durch gespitzte Lippen.
    »Nee, Mann, das gibt’s nicht.« Er klang verwirrt, beinahe entsetzt.
    »Es stimmt, Spinne. Es stimmt alles. Ich wusste, dass etwas passiert, weil ihre Zahlen alle gleich waren. Und dann ist es genauso gekommen.«
    »O Mann, das ist echt unheimlich. Und ganz schön irre.«
    »Ich weiß, ich lebe seit fünfzehn Jahren damit.« Die blöden Tränen waren jetzt wieder weit weg.
    Auf einmal schlug er sich an die Stirn. »Der Alte, der überfahren wurde, du hast seine Zahl gesehen, oder? Deshalb wolltest du hinter ihm her.«
    Ich nickte. Wieder herrschte eine Weile Schweigen.
    »Meine Oma weiß Bescheid, nicht? Du und sie, ihr seid gleich, oder?« Er schüttelte den Kopf. »Die ganze Zeit dacht ich, die redet jede Menge Müll, als wär das alles Blödsinn. Aber die wusste, dass du irgendwie anders bist. Ihr seid ’n Hexenpaar! Scheiße, Mann!«
    Ich setzte mich ein bisschen auf und versuchte gleichmäßiger zu atmen. Ein paar Enten paddelten auf dem Kanal entlang, kleine braune Wesen, ganz selbstvergessen. Ich beobachtete, wie sie stetig weiterkamen. Wie leicht, ein Vogel oder irgendein anderes Tier zu sein, einfach bloß so von heute auf morgen zu leben, ohne Bewusstsein dafür, dass du lebst, ohne Bewusstsein dafür, dass du eines Tages sterben