Den Tod im Blick- Numbers 1
auf.
Verdammt, es war wunderschön, selbst ich erkannte das. Eine ganz andere Stadt. Hier gab es nur Dächer und Schornsteine, Spitzen, Quadrate und Bögen. Die Straßenbeleuchtung tauchte die blassen Steine in warmes oranges Licht, die Gebäude glühten fast, obwohl es draußen fror, und Lichtschlangen wanden sich kreuz und quer durch die Straßen. Auf dem Platz neben der Kathedrale entdeckte ich eine ziemliche Ansammlung von Menschen, einige von ihnen saßen auf Bänken oder auf dem Boden, andere standen nicht weit von einem Baum entfernt zusammen, darunter auch Polizisten, die deutlich rausstachen. Erstaunlich, wie bescheuert Touristen sein können, in so einer Nacht draußen herumzulungern.
Auf der andern Seite des Dachs erhob sich der Kirchturm. Mit gesenktem Kopf trippelte ich umher, bis ich wieder zu einer Tür kam. Wieder ein Schlüssel und schon war ich drinnen und tastete nach dem Lichtschalter. Noch eine Treppe, doch diesmal mit abzweigenden Räumen. Im ersten hingen Seile von der Decke herab. Die Enden waren alle an einer Seite des Raums festgebunden und ich kapierte zuerst nicht, was das sollte, bis ich an der Wand ein Foto entdeckte, auf dem zu lesen stand: Glöckner der Kathedrale 1954. Es waren Glockenseile und mir juckten die Finger, am liebsten hätte ich sie losgebunden und ihnen einen kräftigen Ruck verpasst.
Von dem Raum gingen weitere Türen ab.
Ich entschied mich für eine. Wieder eine Treppe dahinter. Höher und höher ging es und ich probierte eine Tür nach der andern. Einer der Räume unterschied sich von den übrigen. Ein hölzerner Steg führte quer rüber auf die andere Seite, er überspannte einen Steinboden, der zu beiden Seiten steil nach unten abfiel, mit merkwürdigen hervorstehenden Wülsten. Ich brauchte eine Weile, bis ich kapierte, warum das Ganze so aussah wie die Negativform der Kirchendecke unten. Genau das war es nämlich – die Kehrseite der Fächer, die ich an der Decke der Kathedrale gesehen hatte. Mir stellten sich die Haare auf – mir war, als befand ich mich in einer geheimen Welt.
Und am Ende des Stegs noch eine Tür. Sie führte in einen kleinen Raum, von dem es nicht weiterging. An der gegenüberliegenden Wand war eine große weiße Scheibe, die von weichem Straßenlicht erhellt wurde. Ringsum am Rand der Scheibe gab es Zeichen und dazu zwei Pfeile – die Zeiger einer Uhr. Ich stand hinter der Uhr am Glockenturm. Steinsimse führten an beiden Seitenwänden entlang. Auf einem ließ ich mich nieder, den Blick weiter zur Uhr gerichtet – ich musste lächeln, ich war noch nie an einem so bizarren Ort gewesen. Es war, als säße ich im Innern des Mondes. Dann klickte eine der Eisenstangen, die in die Uhr ragten, und der Minutenzeiger wanderte weiter. Wieder eine Minute vorbei. Plötzlich spürte ich, wie sich mein Magen zusammenkrampfte, und mit einem Schlag war Spinne zurück in meinem Kopf.
Überall auf der Welt zeigten Uhren jede Sekunde, Minute und Stunde an. Tausende, vielleicht Millionen Uhren tickten. Wenn ich einen Stein in der Hand gehabt hätte, wär er wohl genau durch das runde weiße Zifferblatt geflogen, hätte das Glas zertrümmert und die Splitter raus in die Nacht gesprüht. Ich wollte alle Uhren der Welt zerschmettern. Aber was würde das ändern? Töte nicht den Überbringer einer schlechten Nachricht, heißt es doch immer, oder?
Und als ich so dasaß, wurde mir klar, dass ich Unrecht hatte. Ich suchte nach einem Schuldigen, während doch jeder sehen konnte, wer im Zentrum des Ganzen stand. Ich. Ich war die Einzige, die die Zahlen sah. Ich sah etwas, das niemand sonst sah. Meine Augen sahen es, mein Kopf, ich. Egal, ob sie wahr oder falsch waren, sie waren ich und ich war sie.
Würde es sie ohne mich überhaupt geben?
Der Anker, der an der Wand entlanglief, ruckte erneut und der Minutenzeiger wanderte weiter. Ich musste hier weg. Der Raum würde mich ersticken, wenn ich auch nur eine Minute länger blieb. Ich sprang auf und fing an zu laufen, über den Steg, zu den Treppen zurück und dann weiter, blind hinauf bis ganz nach oben.
Obwohl es auf der Treppe echt kalt war, wirkte die Luft draußen wie ein Schock. Da oben war nichts, nur das flache Dach und eine Fahnenstange. Und eine weitere Steinmauer, die am Rand entlanglief. Von hier aus war der Blick sogar noch besser – die orangefarbenen Lichter der Stadt erstreckten sich bis in die Berge. Auf einem der Dächer gab es einen Swimmingpool. Türkises Wasser, das von unten beleuchtet
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