Den Tod vor Augen - Numbers 2
erst vor wenigen Minuten, doch es fühlt sich an, als ob es Jahre her wäre. Ich wollte die Zukunft verändern. Ich will es noch immer, aber nicht in der nächsten Minute, nicht in den nächsten zwei, auch nicht in den nächsten zehn.
Denn ich werde zu Sarah gehen.
Sie wartet auf mich.
SARAH
Wieso ich ihn bitte, zurückzukommen? Weil ich, während ich Mia beruhige, seinen Blick nicht loswerde, als er in der Küche stand. Auch er hat Angst. Genau wie ich.
Und abgesehen davon weiß er jetzt, wo ich wohne, also kann er ohnehin jederzeit zurückkommen. Ich will nicht, dass er einfach so auftaucht. Mir ist lieber, er kommt, wenn ich es möchte.
Deshalb gehe ich ihm hinterher und finde ihn, wo ich es vermutet habe, in der Unterführung. Doch ich hatte nicht gedacht, dass er so wäre. Er sackt vor mir zusammen. Es zerreißt mir das Herz – dieser schöne Junge, eingebildet, aggressiv, inzwischen versengt, erschrocken, verzweifelt. Er weint wie ein Baby, wie Mia. Ich hab mich durch sie verändert – ich ertrage es nicht mehr, jemanden weinen zu hören. Ich weiß, dass man Tränen lindern, jemanden beruhigen kann. Und etwas in mir möchte, dass ich ihn in die Arme nehme, ihn hin- und herwiege, bis er sich beruhigt, ihm sage, alles wird gut. Ich lege ihm meine Hand auf die Schulter, doch er schüttelt mich ab. Was ich verstehe; wahrscheinlich würde ich es genauso machen. Zu stolz, oder? Ist schon in Ordnung. Am besten, ich lasse ihn von sich aus kommen.
Ich sage ihm, dass ich hier auf ihn warten werde, und nun warte ich. Ich weiß, er wird kommen. Ich würde mein Leben drauf wetten. Und er kommt. Fünf Minuten nachdem ich zurück bin, erscheint er hinten am Tor.
Er ist klatschnass. Der Regen hat ihm das meiste Blut aus dem Gesicht gewaschen, nur auf der Stirn ist noch ein bisschen was. Man erkennt nicht sofort, dass er geweint hat, aber er weiß es, schämt sich. Er kann mir kaum in die Augen sehen.
»Komm rein«, sage ich. Er geht vor in die Küche, tropft überall. Ich reiche ihm ein Handtuch. »Damit kannst du dich abtrocknen.«
Er tupft sich das Gesicht, dann reibt er sich den Kopf ab.
»Danke«, sagt er.
Ich schaue ihn an. Er steht da, nass bis auf die Haut, und zittert.
»Willst du was trinken? Wasser? Cola? Einen Becher Tee?«
»Tee. Ja, bitte.«
Ich fuhrwerke mit Kessel, Kanne und Beuteln herum. Es ist eigenartig, in seiner Gegenwart etwas so völlig Normales zu tun.
»Wo ist dein Freund?«, fragt er.
»Nebenan«, lüge ich. Vinny ist unterwegs, macht seine Lieferungen.
»Er hat seinen Schläger hiergelassen.« Adam schaut auf den Baseballschläger in der Ecke.
»Wenn es sein muss, weiß ich auch, wie man ihn benutzt«, sage ich, merke erst dann, wie pathetisch der Satz klingt – warum spiele ich hier das beinharte kleine Mädchen? –, und muss unwillkürlich lächeln.
Adam ist unsicher, ob er auch lächeln darf. Seine Mundwinkel zucken.
Dann sagt er ernst: »Musst du aber nicht. Ich bin nicht hier, um dich zu verletzen, Sarah. Ich werde dir niemals wehtun.«
Auf einmal höre ich die Stimme meines Dads. »Es tut nicht weh, wenn du stillhältst.« Lügen, Lügen, Lügen.
Irgendetwas davon muss in meinem Gesicht zu sehen sein, denn auf einmal runzelt Adam die Stirn und fragt: »Hab ich was Falsches gesagt? Ich meine es ernst. Ich werde dir nicht wehtun. Ich will nur mit dir reden.«
Ich hole mich wieder zurück.
»Nein, schon gut. Ich glaub’s dir. Ich will ja auch reden. Setzen wir uns.« Ich führe ihn in das leere Wohnzimmer.
Er sieht sich um. »Ich dachte …«
»Was?«
»Nichts. Egal.« Er hat gedacht, Vinny wär hier. Ich hab ihm gesagt, dass er hier sei.
Wir trinken unseren Tee, ich sitze auf dem heruntergekommenen, verdreckten Sofa, er auf dem andern. Es gibt so viel zu sagen, wir wissen beide nicht, wo wir anfangen sollen. Das Schweigen zwischen uns ist unangenehm. Je länger es dauert, desto schlimmer wird es. Schließlich springt Adam mitten hinein.
»Sarah, du hast mir Sachen an den Kopf geworfen – zum Beispiel, dass ich ein ›Teufel‹ sei. Ich versteh nicht, wieso. Wir sind uns erst ein paar Mal begegnet. Ich hab dir nie was getan.«
Ich hole tief Luft.
»Okay, ja, wir sind uns erst ein paar Mal begegnet, aber ich hab dich gesehen. Ich hab dich das ganze letzte Jahr über Nacht für Nacht gesehen. Du bist ein Teil meiner Albträume. Du warst schon da, bevor wir uns das erste Mal begegnet sind. Ich wusste schon von deinen Narben, bevor du sie bekommen
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