Denkwuerdigkeiten - Aus Meinem Leben
»weint, wenn er ihn (Beethoven) hört«. Aber es gibt auch vertrauenswürdigere Musikbeweiner. Adorno, im Beethovenbuch und anderswo, hielt dafür und stand mit der ganzen Kraft seiner meist mehr verborgenen Emotionalität dafür ein, daß er/man bei gewissen Schuberttakten, -phrasen, -perioden auch ohne textlichinhaltliche Vermittlung losweinen dürfe, ja müsse. Eine gewagte These, bei mir selber sind die meisten Weinanlässe so gut wie immer durch den Textzusammenhang mitbegründet. Hier meine für alle Leser samt und sonders verbindliche Liste von 1961–2011 (mittelfristige Änderungen vorbehalten, aber nicht häufig zu erwarten):
– Beim wortlosen Schubert empföhle ich an gut ausgeschlafenen Tagen und zumal im sonnigen Frühjahr die Schlußmodulation c-moll/C-dur des ersten Klavier-Impromptu op. 90. Fallen Wort und Gesang zusammen, gesteigert durch Klavier und Horn, dann wähle man Schubert mit dem (wohl wegen der Besetzung) skandalös selten, ja nie zu hörenden Strophenlied »Auf dem Strom« D 943, ein Lied mit einem unerheblichen, deshalb sozusagen unhörbaren Text (von Rellstab): Das rauschhaft Stimmenverschlungene im Verein mit dem eh Hornunwiderstehlichen ist hier wohl das Rührende, Tränenerzwingende.
– Wenn es schon (wahrscheinlich kannte Böll keinen anderen) Beethoven sein muß, dann am besten die wehen, schon ihrerseits gewissermaßen weinerlichen Reprisentriller der späten Violinsonate op. 96 in G-dur. Oder eben, auch nicht uneben, bei guten Interpreten konträr tränenfreudig die »Namenlose Freude« aus dem »Fidelio«.
– Einiges in Betracht kommt bei Carl Maria von Weber. Man wähle hier zwischen manchen Zähren treibenden Passagen aus der großen Agathen-Arie des »Freischütz« und der letzten Fis-dur-Modulationsorgie der »Oberon«-Ouvertüre. Auch zur »Euryanthe« weint sich’s vielfach gut.
– Mendelssohn? Hat nicht gar zu viel Weinträchtiges. Am ehesten wohl noch die letzte Komposition, das »Nachtlied« mit dem Text von Eichendorff, bei welchem der Komponist selber »zusammenschauerte«: »Hu, das klingt traurig!« Erlaubt ist dabei jedoch natürlich auch das zuständige Gefühl aus dem 5. Kapitel von Eichendorffs Roman »Ahnung und Gegenwart«: »Die Tränen brechen hierbei aus den Augen« – vor allem bei der finalen Mendelssohnschen Aufhellung nach der vorher unendlichen Traurigkeit und Betrübnis, ja Kümmerniß.
– Gershwin: aus »Porgy and Bess« die Trauerekstase »My man’s gone – Since my man is dead« – aber am besten in der Trompetenversion von Miles Davis.
– Grieg: Solveigs Wiegenlied. Schon die nach wenigen wortlosen Vorspieltakten erpreßten Wehmutswallungen sind »unbezahlbar« (M. Bangemann).
– Von Puccini bietet sich – unter zahlreichen Möglichkeiten – an vor allem die Überleitungsmusik 2./3 Akt »Madama Butterfly«, die windelwehen Terzakkord-Kettenballungen samt dem Summchor; dieser auch schon in der Pizzicato-Version der vorhergehenden Butterfly-Sharpless-Bimbo-Szene. Akkordierend dazu die schöne Wahr-Anekdote aus dem Wiener Opernleben von ca. 1900: Ein kleines Mäderl springt kurzfristig für den erkrankten Knaben-Bimbo der Butterfly ein; vergißt aber in der Aufregung, daß auf des Gouverneurs Frage, wie es heiße, die Mutter mit »Dolore« bzw. »Kummer« zu antworten hat; und läßt sich selber mit einem eifrigst hervorgestoßenen »Mitzi!« vernehmen.
– Der sicherste Weiner – zur Entlastung des sehr verwandten Mondlieds aus der »Rusalka« – steht inmitten von Anton Dvořáks Frauenduetten »Mährische Klänge« op. 31; vorzüglich im Lied »Wasser und Weinen« – in der unweigerlich unwiderstehlichen Botschaft des namen-, des hemmungslos traurigen Mädchens:
»Keiner hier verkehret,
keiner mich begehret,
alle meiden mich.«
Was die äußerst sparsame Musik, die zurückgenommene melodische Floskel dem Text da noch hinzufügt, ist freilich wiederum auch schwer zu sagen. Der Eindruck täuscht, aber es kommt einem vor, als hätten die todtraurigen Einsamkeitsworte sich selber wie nebenbei nur noch ein paar Töne gesucht.
»Nicht die Welt mich quälet,
doch die Freude fehlet,
weinen möcht’ ich gleich.«
Und auch wir mögen uns da der Tränen nicht länger erwehren.
Oberflächlich ist es so, daß Mitleid uns anrührt wegen des von allen verlassenen Dorfmenschleins. Genauer besehen und gehört, besteht das Tränentreibende aber in der himmelschreienden Diskrepanz, im Unverständlichen, daß
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