Denn bittersüß ist der Schnee - Lene Beckers dritter Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
Vortrag zu erzählen, den er hier gehalten hätte. Dabei fiel ihr ein, dass sie das gestern noch im Internet hatte nachsehen wollen. Aber Mike und sie – sie hatte es einfach vergessen. Na gut, dann sp äter.
»Ich habe ein Werk für Holzverarbeitung in Kanada, in der Nähe von Vancouver. Und engagiere mich für den weltweiten Umwel tschutz, Spezialgebiet Wald. Wir in Kanada wissen, dass wir umdenken müssen. Das hemmungslose Abholzen der Wälder für Papiergewinnung kann so nicht weitergehen. Es ist uns endlich gelungen, ein 225 000 Quadratkilometer großes Gebiet im Norden Kanadas vor dem Ausschlagen zu schützen und jetzt ist es dem Volk der Grassy Narrows in Südkanada gelungen ein ähnliches Konzept durchzusetzen. Inzwischen ist es mit Hilfe von Greenpeace so weit - die Regenwälder des Great Bear im Westen rund um Vancouver sind geschützt. Und es muss noch mehr werden. Die Abholzung für Holzverarbeitung und besonders für Papierherstellung läuft in weiten Teilen Kanadas noch völlig unkontrolliert. Die Menschen wissen gar nicht, was sie damit dem Klima und der Umwelt antun! Es muss sich im Bewusstsein weltweit etwas verändern. Dafür setze ich mich auf meiner Vortragsreise ein.« Er stockte und ein entschuldigendes Lächeln huschte über sein Gesicht.
»Ich rede mich heiß an diesem Thema, und Sie wollen sicher etwas ganz anderes an Auskunft von mir.«
Lene sah ihn prüfend an. Dann nickte sie.
»Ich muss mehr über Melanie Merthens erfahren – und über Sie. Am be sten, Sie fangen ganz von vorn an.«
Er runzelte leicht die Stirn, dann legte er seinen aufgestützten Arm auf den Tisch und begann.
»Als ich Melanie 1964 kennenlernte, war ich gerade mit dem Abi fertig und wollte als Waldwächter nach Kanada. Der Traum von der großen Freiheit. Einmal ganz allein im Regenwald leben, auf einem hohen Ausguck über das grüne Meer der kanadischen Wälder schauen und als einzige Aufgabe aufpassen, dass kein Feuer ausbricht. Und in dem Fall die Feuerlöschflieger benachrichtigen, um so früh wie möglich das Ausbreiten eines Feuers zu verhindern.«
Er stockte und lächelte kurz in der Erinnerung. Die feinen Falten um A ugen und Mund zeigten, dass hier ein humorvoller Mann saß, der jetzt nur im Moment des Schocks und der Trauer gefangen war.
»Eine Heldenrolle. Noch dazu hätte ich Zeit zum Lesen und Dic hten – ich wollte damals ein berühmter Poet oder Schriftsteller werden. Ich wusste noch nicht genau, was.«
Er stockte. Sah sie mit seinen grauen Augen an.
»Und dann traf ich Melanie. Und verliebte mich Hals über Kopf in sie. Es war ein Erdbeben. Und ihr ging es genauso. Sie war gerade mal zweiundzwanzig, verheiratet seit etwas fast zwei Jahren und hatte eine kleine Tochter von fünf Monaten. Unmögliche Voraussetzungen! Ihr Mann arbeitete im Ausland, sie war viel allein – und ich, ich tat alles um sie zu erobern. Ich wollte, dass sie mit mir ging, in die Weiten dieses Abenteuers. Wir lagen im Bett und träumten von unserem neuen Leben. Sie sah sich mit ihrer kleinen Tochter auf den Rücken gebunden, wie es die Indianerinnen machten, an meiner Seite. Es war eine wilde, romantische Liebe. Sie war so viel reifer als ich, so eine wunderbare Frau. Und ich wollte sie, mehr als alles in der Welt. Aber dann kam ihr Mann aus Singapur zurück. Er hatte dort als Instrukteur einer Firma gearbeitet. Und es war, als würde Melanie aus einem Traum erwachen. Sie sagte mir, dass sie nicht mit mir gehen könnte. Auch nicht später nachkommen würde. Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Warum jetzt so plötzlich? Ich wollte es nicht einsehen, flehte, bettelte. Aber sie blieb bei ihrem Entschluss. Sie würde bei Andreas bleiben.
Und ich ging allein in die neue Welt, sie in meinen Gedanken mit mir nehmend und in jeder Minute mit ihr ve rbunden. Bis ich nach dreieinhalb Jahren Jessica traf, die schließlich meine Frau wurde. Vom Zeitpunkt meiner Hochzeit an haben wir uns dann nicht mehr geschrieben, Lynn und ich. Ach so, ich habe sie immer Lynn genannt. Und ich habe nichts mehr von ihr gehört bis vor zwei Monaten eben, als ich sie angerufen habe. Seitdem haben wir uns in größeren Abständen gemailt.«
Lene hatte gebannt zugehört. Jetzt hatte der gefundene Brief eine Vorgeschichte, war zu Leben erwacht. Und sie war neugierig geworden. Wie mus ste diese Begegnung verlaufen sein?
»Und gestern? Wie war es gestern, sie nach vierundvierzig Jahren wiederzusehen? Das muss ein wichtiger Moment für Sie beide gew esen
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