Denn bittersüß ist der Schnee - Lene Beckers dritter Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
besonders der Anblick des Neutorturms, das Dach bedeckt mit Schnee und in warmem Licht, machte ihm wieder bewusst, in welch einer schönen Stadt er lebte. Er war als Junge mit seiner Mutter nach Nürnberg gekommen, vorher hatte er in Niedersachsen gewohnt, in der Nähe von Hannover. Damals hatte er hier alles als anders empfunden, alles verschieden von dem, was er gewohnt war. Besonders wegen seiner hochdeutschen Sprache war er erbarmungslos gehänselt worden von den Mitschülern. Er verstand anfangs nicht alles, was sie sagten, der Dialekt klang so fremd und grob in seinen Ohren. Und dann oft die falschen Artikel, die seltsam benutzten mehrfachen Verneinungen, das Verwechseln von wie und als. Er war entsetzt und fragte sich immer, wie seine Mitschüler je richtig schreiben konnten, so wie die sprachen! Aber mit der Zeit begriffen beide Seiten, dass man doch im selben Boot saß und Kalle, wie er jetzt hieß, lernte, sich in der Mundart möglichst anzupassen, oft zum wiehernden Vergnügen seiner Freunde. Nur im Schreiben, da blieb er seiner Ausdrucksweise treu.
Er war in den Stadtteil St. Johannis abgebogen und fuhr die Joha nnisstraße, die Hauptstraße des pittoresken Viertels, entlang. Am Friedhof vorbei, auf dem das Grab von Albrecht Dürer das berühmteste unter den lokalen Größen war, die hier begraben waren. Im Sommer kam er oft hierher und schlenderte dann mit anderen Nürnbergern durch diesen ganz besonderen Friedhof mit Sandsteinsarkophagen, auf denen jeweils Blumenschalen standen, über und über blühend. Aber jetzt lag alles unter einer dicken Schneedecke. Er fuhr weiter durch die Hallerstraße und bog dann links in die Sandrartstraße, fand sogar einen Parkplatz verhältnismäßig in der Nähe des Hauses, in dem Frau Endres in der zweiten Etage wohnte. Auch hier ein gepflegtes Haus, alt und liebevoll restauriert. Wieder dachte Kalle, dass er umziehen sollte nach St. Johannis. Nur der Dampfnudelbäck, der wäre vermutlich sein Verderben. Er schaffte es fast nie, an der historisch-gemütlichen Oma-Gaststätte vorbeizugehen, in der es Dampfnudeln, also köstliche Hefeklöße, über Dampf gegart oder auch im Ofen gebacken, in allen möglichen Variationen gab. Vielleicht sollte er nachher …?
Es hatte wieder angefangen zu schneien. Er klingelte, und ein Su rren ließ ihn die schwere Haustür öffnen. Oben im zweiten Stock erwartete ihn Frau Endres schon in der Tür, sichtlich beunruhigt.
»Ich bin jetzt doch gespannt, was die Polizei von mir möchte, noch dazu die Kripo. Ich hoffe, es ist nichts pa ssiert mit meinem Sohn. Aber der ist doch im Moment in England. Trotzdem, ungewöhnlich ist das schon«, redete sie ohne Unterbrechung auf ihn ein, während sie ihn in die Wohnung und ins Wohnzimmer bat. Er wartete, bis auch sie sich gesetzt hatte und berichtete ihr dann so vorsichtig wie möglich von dem Tod ihrer Freundin.
»Aber wieso denn, wieso Melanie? Ich verstehe das nicht. Das gibt doch gar keinen Sinn. Haben Sie den Mö rder schon?«
Ihre Reaktion der Ungläubigkeit war so konfus wie Lene und er sie schon oft beobachtet hatten. Als ob sich das Gehirn sträubt, das Entsetzen aufz unehmen und zusammenhanglos Sätze diktiert, um den Schock zu überbrücken.
»Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?«, fragte er deshalb vo rsichtshalber. Sie nickte dankbar. »Ja, die Küche ist am Ende des Flures.«
Als er zurückkam, hatte sie Tränen in den Augen und ein Tasche ntuch in der Hand.
»Wissen sie, sie ist meine einzige Freundin. Was soll ich nur ohne sie m achen? «
Sie tat Kalle leid. Er spürte plötzlich die Einsamkeit im Raum wie eine Wolke, die von draußen hereingekommen war.
Kapitel 12
Als sie im Lindlinghaus ankamen, saßen die Schülerinnen und Schüler größtenteils im Aufenthaltsraum, der mit schlichten Tischen mit Resopalplatten und Bänken aus den sechziger Jahren altmodisch und dabei für ein Jugendhaus beinahe gemütlich wirkte. Die Lampenhingen direkt über den Tischen, die Vorhänge vor den großen Fenstern waren schon zugezogen. Tagsüber musste es ein wunderschöner Blick sein auf den sehr nah gegenüberliegenden Berg, den Penhab.
Wie sollte sie die Befragung organisieren? In dem Moment kam Theres herein. Die zierliche Frau strahlte eine besondere Kraft aus. Überall packte sie zu, sowohl auf dem Lindlinghof, als auch oben auf der Lindlingalm, die mit ihr als Chefin ein großes und sehr beliebtes Alpenrestaurant geworden war. Sich dazu entwickelt hatte aus einer kleinen
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