Denn bittersüß ist der Schnee - Lene Beckers dritter Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
bestätigt bekommen. Andreas merkte nichts, er hatte geglaubt, das Kind sei eben früher gekommen. 1964 war man als Mann noch nicht so an der Schwangerschaft und Geburt beteiligt wie die jungen Väter heute. Andreas zumindest rechnete nicht so genau nach, er verließ sich auf seine Frau.
Für Lynn war es ein schrecklicher Konflikt, als sie merkte, dass sie ein Kind von mir bekam. Sie musste sich en tscheiden, ob sie es mir schreiben sollte oder nicht. Und entschied sich dagegen. Ich war einfach unerreichbar weit weg. Sie hoffte immer, dass ich eines Tages wieder nach Deutschland zurückkäme und sie es mir dann sagen könnte. Wir unser Kind zusammen aufwachsen sehen würden. Aber dann habe ich ihr geschrieben, dass ich jetzt heiraten und in die Holzfirma meines Schwiegervaters einsteigen würde. Das hieß für sie, dass ich in Kanada bleiben würde.
Sie glaubte, dass es dann besser sei, wenn ich es nicht erfuhr, da sie wusste, in welch tiefe Konflikte mich das stü rzen würde. Andreas war glücklich über seinen Sohn und liebte ihn. Das war in dieser Situation das Wichtigste für sie. Dass er einen Vater hatte, der bei ihnen war.«
Seine Stimme hatte einen monotonen Klang bekommen, als würde er sich sehr beherrschen und das ginge nur, indem er seine Gefühle verleugnete. Wie schwer musste es für ihn sein, da er von diesem Sohn erst vor so kurzer Zeit erfahren hatte.
»Wolf. Das war sein Name. Eigentlich Wolfgang, aber vom ersten Tag bestand sie darauf, dass er Wolf genannt wurde. Für sie war er mit diesem Namen ein Stück von mir, dem einsamen Wolf in den kanadischen Wäldern. Obwohl sie mich oft mehr als Wolf bezeichnet hat.«
Ein hilfloses, fast zärtliches Lächeln.
»Sie beschrieb mir, wie schwer es für Wolf war, als sein vermeintlicher Vater Andreas starb. Wolf war gerade mal zehn Jahre alt. Mit Mitte zwanzig hat er dann geheiratet. Er war auch Ingenieur geworden, wie Andreas. Und dann bekamen er und seine Frau, ich glaube, sie hieß Hanne, einen Sohn – Sven, meinen Enkel, den ich bei meinem Besuch um wenige Stunden verpasst habe.«
Mit dieser Art Enthüllung hatten Lene nicht gerechnet. Nachden klich sah sie ihr Gegenüber an. Mein Gott, wie schwer war die ganze Situation! Das begriff sie erst jetzt wirklich. Was für ein Drama für ihn, der sich immer Kinder gewünscht hatte, sich mit den Schuldvorwürfen seiner Frau gequält hatte. Das hatte sie am Montag bei ihrem Gespräch herausgehört, dass Jessica Shiller ihm die Schuld an der Kinderlosigkeit gegeben hatte. In all den Jahren.
Und dann schaltete etwas in ihr um auf die Ermittlerin. Dieses Drama konnte auch der Auslöser für einen Mord gewesen sein. Die Fragen bildeten sich in ihrem Inneren ganz von selbst.
Wie ist er im ersten Moment mit dieser Nachricht von seiner Lynn umgegangen? Betrogen um ein Kind, das er sich sein ganzes Leben gewünscht hatte? Ein starkes Motiv für einen Zornesausbruch, der in Gewalt geendet haben könnte.
Der Enkel! Wie würde er wohl mit der Neuigkeit einer völlig u nerwarteten Abstammung umgehen? Oder hatte sie es ihm erzählt, jetzt wo sein Großvater kommen sollte? War er deshalb noch einmal weggegangen von der Klasse, ganz allein? Siebzehn war ein schwieriges Alter, sensibel und unbestimmt in der Identitätssuche. Gerade da kann eine solche Nachricht eine Katastrophe bedeuten. Der völlige Vertrauensbruch! Das dürfte für ihn sehr schwierig werden. Oder gewesen sein? Und dann ein Wutanfall …
Sie sah aus den bis zum Boden reichenden, schmalen Fenstern des Hote lrestaurants nach draußen auf den weiß-grauen Platz. Da war er wieder, der Satz aus dem Gedichtband, der sich in ihr festgehakt hatte. Und eine einsame Gestalt kniend im Schnee – was für eine Lebenslüge war dies Verschweigen der Wahrheit allen gegenüber! Aus Liebe? Was darf die Liebe?
Wahnsinn, die ganze Geschichte.
Sie konnte es nicht leugnen, der Mann ihr gegenüber weckte ihr Mitgefühl. Seine hellgrauen Augen – wie die von Sven, dachte sie. Deshalb waren sie mir heute Morgen aufgefallen.
»Wie schwer war das für Sie. So viel Kummer, aber doch auch die Freude über Ihr Enkelkind. Haben Sie es Ihrer Frau gleich erzählt? «
Seine Lippen pressten sich kurz aufeinander, als ob er sich das Reden ihr gegenüber verboten hatte.
»Nein, bisher noch nicht. Einerseits wollte ich mir erst selbst über die Ko nsequenzen klar werden. Andererseits hatten wir gerade jetzt Ärger im Geschäft. Greenpeace Kanada hat mich hier angerufen, das
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