Denn das Glueck ist eine Reise
im Hotel du Centre betrat, war es nicht mehr pipigelb und betongrau wie am Tag zuvor, sondern sonnengelb und mausgrau, aber wie das Grau einer sehr schönen Maus. Es war nicht mehr anonym, sondern einladend. Jenseits des Kunststofffensters erzählte ihm die Nacht von der Zukunft und von Dingen, die so lange in ihm geschlummert hatten, die jetzt jedoch wieder erwachten und ihn ungeheuer fröhlich stimmten. Der Grund für dieses unerwartete Hochgefühl war unter anderem die Erinnerung an ein kleines Baby auf der Entbindungsstation vor dreiundzwanzig Jahren und das Glück, zum ersten Mal Großvater zu werden. Doch es waren auch viele andere Dinge, die ihn in genau diesem Augenblick, als er auf dem Bett saß, glücklich machten.
Georges war Atheist und – seit dem Religionsunterricht bei Pater François vor ungefähr siebzig Jahren – gelegentlich sogar kirchenfeindlich eingestellt. Wie ließ sich dann sein plötzliches Bedürfnis erklären, jemandem zu danken, den es eigentlich gar nicht gab? Jemand, der ihn verstand und der wusste, woher er kam, jemand, der den Regen und das schöne Wetter machte und für seine Schmerzen und die Ereignisse, die ihn berührten, verantwortlich war. Sein ganzes Leben lang war er Kirchen aus dem Weg gegangen. Er gehörte nicht zu den Leuten, die Gott um dieses oder jenes baten. In seinem Leben hatte er immer das Ruder in die Hand genommen, oder höchstens noch Arlette. Und in seiner Familie bat man niemanden um etwas, weder den Vater noch den Sohn noch den Heiligen Geist (auch wenn Arlette es mitunter heimlich getan hatte, vor allem gegen Ende; das wusste er genau). Alles in allem war sein Leben nicht schlechter gewesen als das anderer – ganz im Gegenteil. Und dennoch war er in Augenblicken wie diesem versucht, jemand anderem als seinen alten Knochen zu danken, mit denen, wie er wohl zu Unrecht glaubte, nicht mehr viel los war. Er war zufrieden und dankbar. Es wäre vielleicht einfacher und irgendwie heiterer, den Engeln zu danken, und genau das tat er auch. Er dankte den Engeln, an die er niemals geglaubt hatte, aber die heute Abend einfach existierten, um eine ganz neue Glückseligkeit mit ihm zu teilen.
Doch ebenso wie der Rausch war seine neue Glückseligkeit am nächsten Morgen wieder verflogen.
Montag, 29. September
Brest (Finistère) – Guéméné-sur-Scoff (Morbihan)
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Georges und Charles trafen sich im Speisesaal des Hotels. Sie hatten beide einen furchtbaren Kater. Charles stöhnte und beklagte sich, während Georges sich riesige Mühe gab, seine trübe Stimmung zu verbergen. Am Buffet vermischte sich der appetitliche Duft frischer Croissants mit dem des herben Duschgels der Herren und der allzu schweren Parfums der Damen. Man ging auf das Buffet zu, als würde man auf die Bühne steigen, und murmelte dabei schüchtern »Guten Morgen«. Man hielt den Rücken gerade und achtete auf seine Manieren: den Käse abschneiden, ohne ein Schlachtfeld zu hinterlassen, den Teller nicht randvoll füllen, um nicht als Vielfraß dazustehen − und das, obwohl man Lust hatte, alles zu probieren, und das Verführerische eines Buffets darin bestand, »ungezwungen zuzugreifen«. Georges und Charles beschäftigten solche Gedanken jedoch nicht allzu sehr, vor allem, da sie ohne ihre Frauen unterwegs waren. Sie füllten ihre Teller großzügig mit Brot und Käse, der nicht besonders lecker aussah, sie aber sättigen würde.
»Verdammt, ich hätte nicht gedacht, dass wir es tun. Und jetzt sind wir tatsächlich unterwegs«, meinte Charles, nachdem sie ihr Frühstück verspeist hatten. »Die erste Etappe der Tour de France. Und ich hab vielleicht einen Kater! Das hätte ich vorher auch nicht gedacht.«
»Vielleicht sollten wir erst nach dem Mittagessen weiterfahren«, schlug Georges schüchtern vor.
»Kommt gar nicht infrage! Vierzig Jahre lang warte ich schon bis nach dem Mittagessen , um sie zu machen, diese Tour! Also los jetzt!«
Der erste Morgen ihrer Tour de France zeigte sich frisch, aber traumhaft schön. Die Sonne schien in der Bretagne, die sich − nach den Fotos in Charles’ Reiseführer zu urteilen − als eine wilde und geheimnisvolle Landschaft ankündigte.
Georges und Charles nahmen sich die Freiheit, ein paar Umwege zu fahren, um etwas von der Landschaft zu sehen und Dinge zu erleben, die sie auf ihre Urlaubskarten schreiben konnten.
Das Tempo ihrer Abenteuerreise war schnell gefunden: Sie würden sich Zeit lassen. Und so entdeckten sie an
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