Denn das Glueck ist eine Reise
eine Ironie: Zuerst wollte er alles vor ihr verheimlichen, und jetzt wollte er alles mit ihr teilen.
Georges war fünfzig Jahre mit einer Frau verheiratet gewesen, die er geliebt und respektiert hatte. Ihm musste man nicht erklären, dass das Leben schöner war, wenn man es teilte. Doch seit Arlettes Tod fand er nicht mehr viele Dinge, die es wert waren, geteilt zu werden. Ein Kräutertee mit Charles, ein Scheck zu den Geburtstagen, das war fast alles. Die Zeit war vergangen; er war alt geworden und hatte zugelassen, dass er sich von allem distanziert hatte. Von der Welt, der Jugend, dem Gras auf seiner Wiese und seinen Tomatenpflanzen. Plötzlich war er ganz allein hinter dem Mittelfeld der Radfahrer zurückgeblieben. Schließlich hatte er sich dann gesagt, dass es gar nicht so eine schlechte Sache war, wenn ihm niemand auf den Wecker ging. Und nun, an diesem schönen Tag, stand er mit den Zehen im Ärmelkanal (oder im Atlantik; er wusste es nicht so genau, traute sich aber nicht, zu fragen) und wachte aus seiner Lethargie auf. Plötzlich begriff er, dass es doch keine so schlechte Sache war, wenn jemand einem auf den Wecker ging. Es war sogar ganz angenehm.
Georges setzte den Spaziergang am Strand fort. Er drehte sich um und konnte Charles und Marcel in dem Restaurant kaum noch erkennen. Sie schienen unzertrennlich. Es tat ihm gut, durchs Wasser zu laufen und das Rauschen der tosenden Brandung und die Schreie der Vögel zu hören. Plötzlich wurden die Stimmen verdammt geschwätzig. Sie flüsterten ihm zu, Ginette anzurufen. Dafür waren die Handys doch da, oder? Um von den verrücktesten Orten wie einem Strand in Erquy aus zu telefonieren. Oder wenn ein Anruf doch zu gewagt war, vielleicht eine kurze SMS?
Georges protestierte innerlich. Es war ein Skandal, wie ein Verrückter auf einem kleinen Gerät herumzutippen, während er diese ungezähmte Schönheit, die Natur und den Wind in den Dünen genießen konnte. Ein wenig poetisch war es schon. Hätte Lord Byron, als er verzückt die Farben des Frühlings in Nottinghamshire betrachtete, ständig SMS verschickt? Bestimmt nicht. Allerdings hatte der romantische Poet die Natur in ihrer ganzen Schönheit in seiner umfangreichen Korrespondenz gerühmt. Daher war Georges überzeugt, dass er mit Sicherheit auch zuhauf SMS verschickt hätte, wenn es damals möglich gewesen wäre. Und außerdem hatte er Ginette jetzt etwas zu erzählen.
Graur Himml über Erquy, Wassr angenehm, uns 2 geht S gut. Können kaum erwartn, dich Mi in Nantes zu treffn. Herzl Gruß, Georges.
(Grauer Himmel über Erquy, das Wasser ist angenehm, uns beiden geht es gut. Wir können es kaum erwarten, dich am Mittwoch in Nantes zu treffen. Herzlicher Gruß, Georges.)
Georges sah auch, dass er zwei SMS von Adèle erhalten hatte. Sie berichtete über die Dreharbeiten und beneidete ihn um seine große Reise. Die kleine Adèle. Georges betrachtete einen Augenblick den Horizont, atmete die frische Luft tief ein und blieb eine ganze Weile mit den Füßen im Wasser reglos stehen.
Charles und Marcel, die in dem Restaurant saßen, beobachteten ihn und sagten nichts mehr.
Bevor sie allerdings verstummten, sprachen sie eine ganze Weile miteinander. Das Gespräch war sogar sehr angeregt gewesen, denn Marcel und Charles entdeckten immer mehr Gemeinsamkeiten. Marcel hatte erklärt, dass er dank seines täglichen Bades in so guter körperlicher Verfassung sei, dass die Krankenkasse ihm die Beiträge eigentlich erstatten müsste. Ein besseres Thema hätte er nicht wählen können, um Charles’ Freundschaft zu gewinnen.
»Oh ja, das sehe ich genauso!«, rief Charles. »Auf jeden Fall! Und ich sag dir eins, Marcel, das ist nicht das Einzige, was die Krankenkasse erstatten sollte. Da gibt es auch noch ... das Belote-Turnier! Das findet einmal im Monat statt, weißt du. Es ist nicht so, dass in unserer Gegend alle verrückt aufs Kartenspielen sind. Chanteloup ist schließlich nicht Las Vegas. Aber trotzdem kommen immer wahnsinnig viele Leute, und um zwei Uhr geht’s los. Es kommen auch Behinderte, welche, die keine Beine haben, welche, die Schmerzen hier haben und Schmerzen da, ah, mein Magengeschwür, und oh, meine Rückenschmerzen. Es gibt sogar welche, die eine Chemotherapie hinter sich haben! Den Rest erspare ich dir. Du würdest es sowieso kaum glauben. Aber sobald eine Partei die ersten zehn Punkte kassiert hat, jammert kein Einziger mehr. Um fünf Uhr ist die ganze Bande außer Atem ... Sie würden alle
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