Denn das Glueck ist eine Reise
fügte dem nichts hinzu und spielte weiter mit den Brotkrümeln auf dem Tisch.
»Ich habe einen Plan«, fuhr Marcel fort. »An dem Tag, an dem ich nicht mehr schwimmen kann, gehe ich trotzdem. Ich schleppe mich bis ans Wasser, und dann schwimme ich, bis man mich nicht mehr sieht. Schluss, aus und vorbei. Ich habe zu meiner Frau gesagt: ›Jacqueline, und dass ich dich an dem Tag nicht dabei erwische, wie du mich wieder herausfischst, sonst ...‹«
Georges seufzte mehrmals. »Das ist genau der Grund, warum ich die Tour de France mache ... Die letzte Chance ...«, sagte er beiläufig.
Dieser Satz ließ Charles aufhorchen, doch Marcel fiel seinem Freund ins Wort.
»Ich gratuliere Ihnen noch einmal, meine Herren! Oh, wie gerne würde ich diese Tour mit Ihnen machen!«
Als die Rechnungen kamen, bot Marcel an, ihnen einen kleinen Likör zu spendieren. Sie nahmen das Angebot erfreut an. Ebenso wie der Pflaumenschnaps bei Ginette wirkte der Likör bei Georges wie eine Verjüngungskur.
»So, meine Freunde, jetzt will ich mal testen, ob ich auch bretonisches Blut habe«, erklärte er den beiden in entschlossenem Ton und stand auf.
Charles und Marcel schauten ihm nach, ohne zu begreifen, was er meinte.
»In zehn Minuten bin ich wieder da.«
Marcel begann zu lachen, und Charles verstand jetzt, was Georges vorhatte.
»Jetzt sag nicht, du gehst schwimmen ... «
»Nein, nur mit den Füßen«, stellte Georges klar. »Ich bin Anfänger. Und außerdem habe ich kein Handtuch.«
»Ich kann dir meins leihen!«, rief Marcel. »Hm, ich finde, wir können uns ruhig duzen ...«
Georges gab ihm ein Zeichen, dass er kein Handtuch brauche, und ging auf den Strand zu. Eine Minute später war er wieder da, um sein Handy zu holen, das er auf dem Tisch hatte liegen lassen. Er steckte es ein und verschwand sofort wieder.
Charles und Marcel schauten ihm nach. Georges zog die Schuhe und Socken aus und krempelte die Hose bis zu den Knien hoch. Man konnte seine dünnen Waden sehen, die zögerten, sich den Wellen zu nähern.
Charles, der ein wenig beunruhigt war, wandte sich Marcel zu.
»Bist du sicher, dass er keinen Herzschlag bekommt oder sich eine Lungenentzündung oder wer weiß was einfängt?«
»Da bin ich überfragt. Ich habe immer gesagt: Ich weiß, dass das Meerwasser mir guttut, aber ich sage nicht, dass es für jeden gilt.«
Diese Antwort beruhigte Charles nicht besonders.
Georges spürte den nassen, kalten Sand unter seinen nackten Füßen. Das fing ja gut an! Er hatte sich den Sand weicher und vor allem wärmer vorgestellt. Da die beiden anderen ihn mit Sicherheit beobachteten, wollte er keinen Rückzieher machen. Er bedauerte es schon, den Mund so voll genommen zu haben. Daran war der Schnaps schuld. Als das Wasser zurückwich, ging er näher heran und sank ein wenig in den Sand, der mit eiskaltem Wasser vollgesogen war. Doch das Wasser überspülte bereits seine Füße und stieg bis zu den Knöcheln hoch. Puh, war das kalt! Es war so kalt, dass ihm von den Füßen bis zu den Knien stechende Schmerzen durch die Beine schossen. Es war unerträglich, aber er wollte auf keinen Fall aufgeben. Georges spazierte einen Moment lang parallel zur Brandung am Strand entlang, um sich an die Kälte zu gewöhnen. Dann ließ er die Zehen langsam vom Meer überspülen und tauchte die Füße nach und nach tiefer ins Wasser. Nach fünfzig Metern reichte es ihm schließlich wieder bis zu den Knöcheln, aber der Schmerz ließ allmählich nach.
Seine Freunde und den Himbeerschnaps im Restaurant am Strand hatte Georges vollkommen vergessen. Er genoss dieses außergewöhnliche Erlebnis und seinen Wagemut, an einem kalten Oktobertag mit nackten Füßen durchs Wasser zu laufen. Seit vielen Jahren war er nicht mehr wagemutig gewesen. Die eisige Kälte zu Beginn empfand er bald nur noch als kalt und dann als frisch. Er spürte ein ihm unbekanntes körperliches Wohlbefinden, als würde das Wasser ihn reinigen und verjüngen. Georges’ Gedanken wanderten zu seiner einzigen Tochter Françoise. Er hätte diesen Augenblick gerne mit ihr geteilt. Vielleicht wäre sie stolz auf ihn gewesen, so wie er selbst es auch ein wenig war. Es hätte sie zum Lachen gebracht. Nein, sie wäre sicherlich beunruhigt gewesen. Die Françoise von heute hätte ihn aufgefordert, nach Hause zurückzukehren. Vor zwanzig Jahren hätte Françoise mit ihm gelacht und ihm gesagt, er sei verrückt, aber sie hätte dasselbe machen wollen. Seine Tochter fehlte ihm. Was für
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