Denn dein ist die Schuld
Zeitschriftenhändler sein, der einem hinterherlief, weil man sein Portemonnaie zwischen den Zeitungen vergessen hatte. Oder der Nachbar, der einen völlig überraschend zum ersten Mal seit Jahren im Treppenhaus grüßte.
Oder der ungewöhnlich klare Himmel, das Rauschen eines milden Frühlingslüftchens in den noch kahlen Zweigen.
Das konnte jemand sein, den man jeden Morgen in der Bar sah und der einem eines Morgens, während man wie immer seinen Cappuccino im Stehen trank, zulächelte. Und plötzlich merkte man, wie schön sein Gesicht war und dass man es gerne berühren wollte, um ihm den goldgelben Tropfen Pfirsichmarmelade vom Kinn zu wischen, der aus der Brioche gespritzt war.
Ispettore Capo Vincenzo Marino stand schon seit einiger Zeit unter Anspannung. Er wachte morgens auf und wartete auf eine angenehme Überraschung. Nicht nur bei den Ermittlungen. Auch in seinem Privatleben, das seit einiger Zeit auf dem Abstellgleis gelandet war.
Momentan verlief sein Leben so flach wie das EEG einer Marmorstatue. Und das reichte ihm langsam.
Seit er nach Lucias Tod aus Neapel weggezogen war, plätscherten seine Tage gleichförmig dahin. Von Montag bis Samstag war da die Arbeit mit ihrer täglichen Routine. Und Sonntage gab es für ihn praktisch nicht, auch wenn er keinen Bereitschaftsdienst hatte. Er stand auf, rasierte sich, zog sich ein sauberes Hemd an und ging ins Büro, wo er sich ausschließlich auf die Ermittlungen konzentrierte. Alles andere: essen, laufen, Kaffee trinken, den Müll runtertragen, das tat nicht er, sondern einer mit seinem Gesicht, der in seinen Kleidern steckte und in seinem Bett schlief, während er in Gedanken ganz woanders war.
Es war Zeit, sich einen Ruck zu geben.
Und schließlich, dank des Falles, an dem er arbeitete, bröckelte die Kruste aus Groll, die ihn umschloss, und die lähmende Gleichgültigkeit begann sich zu lösen.
Seit er immer mehr Zeit mit Sandra Leoni verbrachte, hatte er den Eindruck, dass auch für ihn eine Art Erwachen der Sinne und Gefühle anbrach.
Hormone im Aufruhr.
Die Lust, jemanden zu umarmen.
Gefühlsschwankungen, wie damals mit siebzehn.
Statte accuòrto , Vincè! Vince, pass auf!
Sandra Leoni schien ihn aber gar nicht wahrzunehmen. Und es fiel ihr überhaupt nicht ein, ihn zu irgendetwas zu ermutigen. Und doch … hatte Marino mehr als einmal ein merkwürdiges Gefühl gehabt. Als ob sie ihm zu verstehen geben wollte, dass sie sich in seiner Gegenwart wohl fühlte. Und es ließ sich auch nicht leugnen, dass sie von Tag zu Tag zugänglicher wurde.
Femmena’nzista!
Eine schwierige Frau! Hart, und mit einer so strengen Moral, dass man bei ihr nicht einmal mit dem Schweißbrenner weiterkam. Doch Marino verlangte es allmählich danach, eine Frau an seiner Seite zu haben. Um mit ihr zu sprechen, mit ihr Tisch und Bett zu teilen. Und daher tat er das Einzige, was ihm übrig blieb: Er wartete.
Worauf?
Er wusste es nicht, aber sie.
Sie wusste es bestimmt.
Und am Ende der Warterei wäre es so, als käme man aus einem Kühlhaus und stürzte sich in die lauen Fluten der Karibik. Doch das Warten hatte auch seine guten Seiten. Denn jeder Tag brachte ein Versprechen.
Egal wie der Tag verlief, er brachte immer irgendetwas, und das war immer noch besser, als nichts zu haben, auf das man warten konnte.
An diesem Montagmorgen saßen Marino und die Leoni zusammen im Saloon. Er war schon bei seinem dritten Kaffee. Sie hatte nicht gefrühstückt und riss die Verpackung eines labberigen Automaten-Croissants auf, um es in ihren Cappuccino zu tauchen.
»Leo’, möchtest du mit mir zur Staatsanwaltschaft fahren? Heute soll der Staatsanwalt die beiden Nazis verhören, die einen Deal machen wollen.«
»Gerne, Vince. Aber welchem Umstand verdanken wir diese plötzliche Glasnost bei den Carabinieri? Sie teilen doch sonst nicht einfach ihre Informationen mit anderen oder laden uns zu Verhören ein. Vor allem dann nicht, wenn einer ihrer Leute getötet wurde.«
»Wir verdanken es dem Umstand, dass sich hier die Ermittlungen in beiden Fällen überkreuzen, Leo’. Die Entführung des Simonella-Babys, die in unseren Zuständigkeitsbereich fällt, und der Mord vor dem Nadir , der ihre Angelegenheit ist. Der Tenente Colonnello ist nicht auf den Kopf gefallen. Er weiß, dass viele Köpfe mehr bringen als wenige. Besonders, wenn die wenigen zum Denken zu aufgebracht sind. Einer ihrer Leute ist umgebracht worden. Wie würdest du dich da wohl fühlen?«
»Stinkwütend. Ich
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