Denn dein ist die Schuld
Eingang des Lokals Nadir in der Via Missaglia in der südlichen Peripherie von Mailand. Ich hielt Wache zusammen mit meinem Kameraden Romano Gatti, genannt Acido, und den Kameraden Mastino und Fritz, deren wahre Namen ich nicht kenne, da sie nicht unserer Zelle angehören, obwohl sie uns oft bei Ordnungsdienst, Rekrutierung von neuen Mitgliedern und anderen Aufträgen dieser Art unterstützen.
Wir hielten uns nicht zu unserem Vergnügen an diesem Ort auf, sondern sollten Kontakt mit den Bikern aufnehmen, die an diesem Tag in dem Lokal einen ihrer Jahrestage feierten. Ich muss dabei vorausschicken, dass die obengenannten Biker zwar mit den Ideen unserer Gruppe sympathisieren, aber mit uns in keiner Weise verbunden sind. Soweit ich weiß, waren wir von der SNOB aus rein ›kommerziellen‹ Gründen bei ihrem Treffen vor Ort, da Biker unsere Waren und Fanartikel sammeln, vor allem Motorradketten, T-Shirts mit Runen und gotischen Buchstaben, Schädeln und Hakenkreuzen, Schädel aus Kunstharz, Stiftehalter und Ähnliches.
An diesem Abend hatten wir schon sehr viel verkauft und darüber hinaus zahlreiche Bestellungen erhalten, als wir eine Person entdeckten, die wir sofort als Carabiniere erkannten. In der Überzeugung, dass er sich in unsere Gruppe einzuschleusen plante, um unsere Aktivitäten auszuspionieren, wollten wir ihm eine Warnung verpassen.
Ich erkläre, dass ich den Carabiniere noch nie gesehen oder getroffen habe, der später als Carmine Micciché identifiziert wurde.
Ich erkläre, dass ich ihm gegenüber keinen persönlichen Groll hegte.
Ich erkläre, dass seine Verletzungen und der darauf folgende Tod ein tragischer Irrtum sind.
Ich habe dem nichts mehr hinzuzufügen oder zu verändern.«
Gelesen, bestätigt, unterschrieben
Unterschrift: Alberto Corsoli
KAPITEL 86
Montag, 12. März, 11:30 Uhr
Sandra Leoni brach der kalte Schweiß aus.
Sie zitterte vor Wut.
Mafia!
Nein, nicht die eine Mafia, sondern gleich mehrere!
Dieser Fall war davon durchsetzt. Ganz bestimmt hatte man ihnen deshalb die Ermittlungen erschwert.
Wie gewöhnlich gingen die Carabinieri auf eigene Faust vor. Und die SCO arbeitete im Verborgenen.
In ihr brodelte es, wieder einmal hatte man die Abteilung Verbrechensbekämpfung ausgeschaltet, um Seiner Herrlichkeit, dem Zentralen Einsatzkommando SCO, Platz zu machen, das theoretisch nur ihre Ermittlungen hätte aufnehmen sollen und stattdessen alles an sich gerissen und sie ausgebootet hatte. Mit anderen Worten: Jemand ganz oben hatte entschieden, dass sie nicht gut genug für den Fall waren, und hatte deshalb die Ermittlungen, die eigentlichen Ermittlungen, an die Spezialisten weitergereicht.
Natürlich machte man sich nicht die Mühe, sie darüber zu informieren.
Den Carabinieri war daraus kein Vorwurf zu machen. Schließlich war einer von ihren Leuten zu Tode geprügelt worden. Während ihrer Ermittlungen hatten sie zufällig eine Spur gefunden.
Sie haderte nur mit ihren eigenen Vorgesetzten.
In der Polizei schotteten sich die einzelnen Abteilungen gegeneinander ab. Wie viele Ermittlungen waren schon erfolglos geblieben, nur weil die einzelnen Abteilungen nicht miteinander kommuniziert hatten? Genau dafür hatte man ja die SCO aufgebaut: um Informationen zu Fällen, die im Verdacht standen, etwas mit organisiertem Verbrechen zu tun zu haben, zu bündeln und zu vergleichen. Stattdessen war diese Institution nur noch ein weiterer hermetisch abgeschotteter Verein mehr geworden!
Um Gottes willen ja nie jemandem, der jeden Tag draußen auf der Straße sein Leben riskierte, die kleinste Information zukommen lassen. Schon ein »Vielen Dank, aber jetzt überlasst ihr besser uns das Feld« wäre zu viel gewesen.
Sie hätte merken müssen, dass etwas Großes hinter dem Fall steckte. Zuerst diese Überdosis an Meetings und Briefings, dann schien auf einmal alles zum Stillstand gekommen zu sein. Man hatte sie nicht mehr zu Meetings eingeladen und hatte ihnen weder Daten zum Fall noch andere Informationen zukommen lassen. Ein sicheres Anzeichen dafür, dass jetzt andere Abteilungen daran arbeiteten.
Wütend warf sie die Akte in eine Schublade und rief Marino an.
»Kaffee?«
»Noch einen?«
»Ja, aber nicht hier.«
Er hatte ihren Anruf schon erwartet und meinte lächelnd:
»Okay, in dreißig Minuten in der Bar gegenüber.«
»Was ist nun? Hast du den Kram gelesen, den ich dir gegeben habe?« Ispettore Capo Marino wurde langsam gereizt. Er hatte seinen Cappuccino schon
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