Denn mein ist deine Seele: Psychothriller (German Edition)
können.
Außerdem verstand sie jetzt, warum er einen Mittelsmann benutzt hatte. Häftlinge durften nicht jedem schreiben, wie sie nach kurzem Stöbern auf der Internetseite der Gefängnisse von Virginia herausgefunden hatte. Der Besserungsanstalten , wie es offiziell hieß. Der Begriff klang für sie blauäugig naiv und vollkommen falsch. Sicher sollten Häftlinge in Gefängnissen rehabilitiert werden, aber sie begriff nicht, wie man von jemandem in der Todeszelle behaupten konnte, er säße in einer Besserungsanstalt. Es sei denn, man betrachtete den Tod als Besserung.
Am stärksten hatte sie mit dem Ende zu kämpfen. Grüße? Unsinn. Alles Gute? Eher: Alles Schlechte. Schließlich unterschrieb sie nur mit ihrem Namen, ganz ohne Wünsche.
Die Zeit, ihre alte Freundin, tat dezent ihr Werk. Der Brief rückte in Elizas Gedanken in den Hintergrund wie eine Socke, die hinter dem Trockner verschwand. Oder, vielleicht treffender, wie etwas Verderbliches hinter dem Kühlschrank, das irgendwann stinken oder Ungeziefer ins Haus locken würde, aber vorübergehend eine kurze, sorgenfreie Gnadenfrist genoss. Im Augenblick war sie zu beschäftigt damit, alles für den Schulbeginn vorzubereiten. Hier würden die Kinder verschiedene Schulen besuchen, Iso würde mit dem Bus zu ihrer Middleschool fahren, während Albie zu Fuß zur Grundschule gehen konnte. Elizabeth würde beide morgens auf den Weg bringen müssen, was ihr nichts ausmachte. Das war ihr Job, ihre Aufgabe, und darin war sie, wie sie sich insgeheim eingestand, großartig. Nur insgeheim, weil solche Ansichten nirgends gern gehört wurden. Vonnie bekam beinahe einen Anfall bei der Vorstellung, dass Eliza die Mutterrolle als Vollzeitjob ansah, noch dazu als erfüllenden. Selbst ihre Mutter fragte sich, welche Erfüllung Eliza darin noch finden konnte, als die Kinder größer wurden. Immer wieder spielte Inez darauf an, dass Eliza doch sicher irgendwann ihr Studium fortsetzen, ihren Abschluss nachholen würde. Die Frauen in Peters Welt, die Eliza bei diesen unzähligen »Zweckveranstaltungen« traf, erkundigten sich stets nach ihrer »außerhäuslichen Tätigkeit«, danach, ob sie arbeitete oder früher gearbeitet hatte. Doch ihre Höflichkeit konnte nicht verbergen, dass Elizas Tätigkeit für sie keine Arbeit war. Sie war vielleicht schwer und sicher ermüdend. Aber keine Arbeit.
Das war in Ordnung. Was Eliza tat, betrachtete sie selbst nicht als Arbeit, dafür genoss sie es zu sehr. Sie war hervorragend darin. Sie gehörte nicht zu diesen salbungsvoll perfekten Müttern, die raffinierte Essenspakete packten und für Klassenfeiern nie auf fertige Leckereien zurückgriffen. Aber sie ließ sich fast nie aus der Ruhe bringen und nahm alles, wie es kam. Eine kleine Krise dann und wann gefiel ihr sogar – ein eiliges wissenschaftliches Schulprojekt, verlorene Hausaufgaben, verlorene Sachen überhaupt. Wenn Eliza anfing zu suchen, blieb nichts verschwunden. Sie kannte ihre Kinder so gut, dass sie leicht nachvollziehen konnte, wo sie gedankenverloren etwas an die falsche Stelle legten. Zum Beispiel wusste sie, dass Iso ihre Zahnspange beim Fernsehen herausnahm, deshalb fand sie die Spange oft auf der Armlehne des Sofas wieder. Sie wusste, dass der verträumte Albie so tief in seiner Fantasie lebte, dass alles Teil dieser Welt werden konnte. Sein Tornister fand sich schon mal auf dem Kopf von Tante Vonnies riesigem Stoffhund wieder und ließ das Tier beinahe wie einen Erzbischof aussehen, wobei Albie es wahrscheinlich auf einen Zauberer angelegt hatte.
Als sie gerade auf allen vieren unter dem Bett nach Albies verlorenem Turnschuh – Sneaker – suchte, klingelte das Telefon. Albie hatte seine Sandalen anziehen müssen, was ihm nichts ausgemacht hatte, bis Iso ihn damit aufzog. Danach war er die fünf Straßen bis zur Schule gelaufen, als ginge es zur Guillotine, und hatte den ganzen Weg lang geschnieft und gejammert. Eliza hatte ihm versprochen, sie würde seine Schuhe noch an diesem Tag finden und sie ihm vielleicht sogar in der Mittagspause bringen. Sie schnappte sich den Schuh, dessen Gegenstück erstaunlicherweise in der Gästetoilette im Erdgeschoss aufgetaucht war, und rannte zum Telefon. Das konnte sie sich einfach nicht abgewöhnen. Selbst wenn beide Kinder sicher im Haus waren, rechnete sie bei jedem Klingeln mit einem möglichen Notfall. Dabei würde sich bei einem echten Notfall eher der muntere Klingelton ihres Handys melden. Geschafft , gratulierte sie sich,
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