Denn nie bist du allein - Crombie, D: Denn nie bist du allein - In a Dark House
Mietshaus mit einem Geschäft im Erdgeschoss – nicht besonders einladend, aber nur einen Steinwurf vom Guy’s Hospital entfernt.
Sie wollte gerade auf den Klingelknopf drücken, als sie plötzlich durch eine Lücke im Strom der Passanten einen
Mann erblickte, der ein paar Meter weiter zusammengekauert auf dem Gehsteig hockte, die Füße im Rinnstein. Er hatte den Kopf in die Hände gestützt, und die Menschen machten einen großen Bogen um ihn, wie sie es normalerweise bei Betrunkenen und Obdachlosen taten – die man allerdings selten halb auf der Straße sitzend antraf. Tatsächlich sah der Mann nicht nur krank, sondern auch ungepflegt aus.
Die Ablenkung kam Gemma zwar alles andere als gelegen, aber sie konnte ihn nicht so da sitzen lassen, ohne zumindest zu versuchen, ihm zu helfen.
Noch bevor sie ihn erreicht hatte, stieg ihr die Alkoholfahne in die Nase, und sie hatte plötzlich ein bisschen mehr Verständnis für die anderen Passanten, die einfach weitergegangen waren. Wenige Schritte von ihm entfernt blieb sie stehen und sagte: »Entschuldigen Sie, Sir, kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Da er keine Antwort gab, ging sie in die Hocke, um ihn ein wenig genauer in Augenschein zu nehmen. Er hatte dunkles Haar, er war groß – das war selbst in seiner gegenwärtigen Haltung zu erkennen – und schlank. Seine Kleider, wenngleich zerknittert, schienen sauber und von guter Qualität, und an seinem Handgelenk, das durch den hochgerutschten Hemdsärmel entblößt war, konnte sie eine teuer aussehende Uhr erkennen. Der Mann war kein Stadtstreicher – und in diesem Moment hatte Gemma eine spontane Eingebung. Falls sie sich irrte, wäre nichts verloren.
Sie berührte seine Schulter. »Mr. Novak?«
Diesmal hob er den Kopf und starrte sie aus blutunterlaufenen Augen an. Sein Gesicht war lang und dünn, er hatte sich offensichtlich seit Tagen nicht mehr rasiert, und seine Augen wirkten eingefallen, aber Gemma konnte dennoch erkennen, dass er unter besseren Umständen durchaus attraktiv sein musste. Er schwieg immer noch.
»Mr. Novak«, sagte sie erneut. »Mein Name ist Gemma
James.« An dieser Stelle zögerte sie, doch dann kam sie zu dem Schluss, dass es besser wäre, von Anfang an offen und ehrlich zu sein, wenn sie sein Vertrauen gewinnen wollte. Und in seinem Zustand würde er ihr wohl kaum davonlaufen. »Ich bin von der Kriminalpolizei, und ich glaube, Sie brauchen Hilfe.«
Er starrte sie noch eine Weile schweigend an, dann packte er sie überraschend kräftig am Arm. »Sie haben sie gefunden. Harriet. Sagen Sie mir, – ist sie …«
»Wir haben Ihre Tochter noch nicht gefunden. Wir hatten gehofft, dass Sie uns dabei helfen könnten. Aber zuerst bringen wir Sie mal rauf in Ihre Wohnung, okay? Können Sie aufstehen?«
»Weiß nicht«, murmelte er, ließ sich aber bereitwillig von ihr aufhelfen. Er schwankte ein wenig, doch er schien sicher genug auf den Beinen, um ohne Hilfe gehen zu können. Gemma vermutete inzwischen, dass er nicht so sehr betrunken als vielmehr verkatert und völlig erschöpft war.
Wenigstens hatte er noch seine Schlüssel. Gemma führte ihn die Treppe hoch zu seiner Wohnung, und nachdem sie ihm geholfen hatte, die Tür aufzuschließen, wankte er ins Wohnzimmer und ließ sich in den nächstbesten Sessel sinken, als hätten seine Beine urplötzlich den Dienst versagt.
Das Innere der Wohnung war auch nicht einladender, als es der Blick von der Straße vermuten ließ. Offenbar das Resultat einer hastigen Umbaumaßnahme mit Blick auf den Immobilienboom, war sie äußerst billig ausgestattet, und an Decke und Wänden waren bereits erste feuchte Flecken zu sehen. Das Wohnzimmer enthielt ein paar zusammengewürfelte Möbel, und auf dem Boden lag ein geöffneter Koffer mit herausquellendem Inhalt.
»Wie lange ist es her, dass Sie zuletzt geschlafen oder etwas gegessen haben?«, fragte Gemma, da Tony Novak wieder abzudriften drohte.
»Weiß nicht. Kann mich nicht erinnern.« Er runzelte die
Stirn und rieb sich über die Bartstoppeln. »Ein paar Tage, glaube ich.«
»Okay.« Gemma ging in die winzige Küche, um eine Bestandsaufnahme zu machen. Auf der Anrichte lag ein angeschnittener Laib Brot, und der ansonsten gähnend leere Kühlschrank enthielt nur ein wenig Käse und Butter. »Sie müssen jetzt erst mal etwas essen, und dann können wir uns unterhalten.« Gemma butterte ein paar Scheiben Brot und schnitt Käse für ein Sandwich, während das Wasser kochte, anschließend machte sie eine
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