Denn nie bist du allein - Crombie, D: Denn nie bist du allein - In a Dark House
beobachtet hatte. »Es ist nicht so, wie du …«
»Nein, nein, das weiß ich doch. Es ist nur …« Sie musterte ihn eindringlich. »Du siehst es gar nicht, oder?«
»Was soll ich sehen?« Er runzelte verwirrt die Stirn, und sie dachte, welch sonderbare Verkleidungen die Trauer im Labyrinth des menschlichen Herzens doch annehmen konnte. Kits Mutter war der gleiche helle, grazile Typ gewesen, mit dem gleichen scheinbar unschuldigen Blick, durch den ein scharfer Verstand hindurchschimmerte.
»Es ist Vic«, sagte sie und berührte zart seine Wange. »Sie erinnert dich an Vic.«
Als Kincaid vom Friedhof losfuhr, hatte er die feste Absicht, auf direktem Wege zum Yard zurückzukehren. Doch stattdessen ertappte er sich dabei, wie er den Wagen durch den leichten Nachmittagsverkehr in westlicher Richtung aus der Stadt herauslenkte, bis er schließlich auf die M 4 nach Reading auffuhr.
Er rief Cullen an. »Hören Sie mal«, sagte er, als Cullen abhob, »ich … ich habe da noch etwas Persönliches zu erledigen. Wären Sie so nett, mich für ein paar Stunden zu vertreten?«
Cullen zögerte, als ob er ihn noch etwas fragen wollte, sagte dann aber, vielleicht eine Spur zu enthusiastisch: »Klar, Chef. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie auf dem Weg hierher sind.«
Wenn er es sich recht überlegte, war Kincaid ganz froh, nicht mit dem Midget zur Beerdigung gefahren zu sein, sondern
stattdessen einen Rover aus dem Fuhrpark des Yard geliehen zu haben – seine Schwiegermutter hatte den kleinen Sportwagen immer gehasst.
Wieso war er nicht von selbst darauf gekommen, dass Rose Kearny ihn an seine Exfrau erinnerte? Es war mehr als nur eine oberflächliche Ähnlichkeit. Er dachte an Vic, wie sie mit zwei- oder dreiundzwanzig gewesen war – sie hatte genau diesen ruhigen Ernst ausgestrahlt, und sie hatte auch immer so gewirkt, als ob sie das Leben ein kleines bisschen zu schwer nähme.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Lanzenstich, der eine alte Wunde wieder aufriss; eine Wunde, die er längst gründlich verbunden zu haben glaubte – und dann musste er zu seinem Erstaunen plötzlich an Eugenia denken.
Was musste es für ein Gefühl sein, ein Kind zu verlieren? Zu erleben, wie alles, was einen an dieses Kind erinnerte, neuen Schmerz brachte, und zugleich zu wissen, dass der Verlust dieses Schmerzes wie ein neuer Tod wäre?
In Reading verließ er die Autobahn und fuhr weiter bis zu der ruhigen Stadtrandsiedlung, in der Vic ihre Kindheit verbracht hatte und in der Bob und Eugenia Potts immer noch wohnten. Er parkte den Wagen auf der Straße vor dem Haus.
Es war eine von Dutzenden identischer Doppelhaushälften aus rotem Backstein, erbaut in den Sechzigerjahren, als diese Architektur das Ideal der bürgerlichen Wohlstandsgesellschaft dargestellt hatte. Heute wirkte das Ganze nur noch eintönig und erschreckend gesichtslos. Das Haus hatte sich nicht verändert, wenngleich der Garten ein wenig vernachlässigter wirkte als bei Kincaids letztem Besuch. Hierher hatte Eugenia Kit nach dem Tod seiner Mutter gebracht, und von hier war er bald darauf weggelaufen.
Kincaid hatte sich immer schon gefragt, wie eine solche Umgebung eine Frau wie Vic hervorgebracht haben konnte – es war ihm so unwahrscheinlich erschienen wie ein Schmetterling,
der aus einem Stein schlüpft. Und doch musste in diesem Haus, in dieser Familie irgendetwas gewesen sein, das ihre Einzigartigkeit ermöglicht hatte.
Die Gardine am Wohnzimmerfenster bewegte sich – wie in diesem Moment vermutlich Dutzende identischer Gardinen in der ganzen Straße. Für ihn war es die Aufforderung, all seinen Mut zusammenzunehmen und die Festung zu erstürmen. Er klopfte sich einen imaginären Fussel vom Revers – mit seinem besten dunklen Anzug, kombiniert mit dem seriösen Rover, würde er hoffentlich gleich zu Anfang punkten können – und stieg aus.
Bob Potts öffnete die Tür, ehe Kincaid klingeln konnte. Das Haar seines Schwiegervaters war inzwischen so schütter, dass die rosig glänzende Kopfhaut durchschimmerte, und seine graue Strickweste war an den Ellbogen ausgebeult. Er war ein alter Mann geworden. »Duncan«, sagte er. »Du hättest nicht – es ist kein sehr günstiger …«
»Bob, bitte. Gib mir nur ein paar Minuten. Ich möchte mit euch beiden reden.«
»Aber du verstehst nicht. Ich will nicht, dass sie sich aufregt.« Bob Potts hatte die letzten vierzig Jahre damit verbracht, dafür zu sorgen, dass seine Frau sich nicht aufregen musste, und das hatte ihn
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