Denn nie bist du allein - Crombie, D: Denn nie bist du allein - In a Dark House
hinaufging. Sie mühte sich, das Bild, das vor ihr aufstieg, zu verdrängen – das Bild der alten Mrs. Castleman, wie sie die enge, dunkle Stiege hinunterstürzte.
Oben angekommen, fanden sie nur eine einzige Tür; sie war verschlossen. Der Feuerwehrmann, der vorangegangen war, klopfte an, dann wandte er sich zu Gemma um und zuckte fragend mit den Achseln. Sie nickte. »Zurücktreten, die Damen«, befahl er und holte mit der Axt aus.
Das alte Schloss bot der Attacke der gehärteten Klinge keinen Widerstand. Die Tür sprang auf, und der Gestank traf sie wie ein Schlag ins Gesicht, ein widerlicher Pesthauch aus menschlichen Exkrementen, Krankheit und Angst. Gemma stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die massige Schulter des Feuerwehrmanns ins Zimmer spähen zu können, und erblickte die Kommode mit dem Krug und der Waschschüssel,
das Bücherregal, den Eimer in der Ecke. Sie drängte sich vor, und der Feuerwehrmann ließ sie vorbei.
Da sah sie das Bett und die verängstigten, fieberglühenden Augen des Mädchens, das zitternd unter der zerschlissenen Decke kauerte.
»Mein Gott«, stieß der Feuerwehrmann hervor, und das Entsetzen stand in seinen wettergegerbten Zügen geschrieben. »Wenn’s sein muss, schwör ich, dass das ganze Haus voll Rauch war, Ma’am.«
Doch Gemma sah nur das Kind, sah, dass es lebte und bei Bewusstsein war. In Sicherheit. Sie trat auf das Bett zu und fiel auf die Knie. »Es ist alles gut, mein Schatz. Es ist ja alles gut«, flüsterte sie, und dann schloss sie Harriet in die Arme.
19
Vom Trauern is’ noch kein kaputter Knochen heil geworden,
un’ weil gute Leut’ so selten sin’, sag ich immer,
macht das Beste draus.
Charles Dickens, Londoner Skizzen
Das Wetter war endlich umgeschlagen, und nachdem die Nacht leichten Frost gebracht hatte, war ein wolkenloser, angenehm frischer Tag angebrochen. Als Gemma durch den Nordosten Londons fuhr, fiel ihr auf, dass plötzlich ein Hauch von Herbst über der Stadt lag und dass der Himmel über den Bäumen, deren Laub sich zaghaft bunt zu färben begann, geradezu unglaublich blau war.
Sie fuhr die vertraute Strecke nach Leyton, doch heute war ihr Ziel nicht die Bäckerei ihrer Eltern, sondern der Friedhof von Abney Park im nahen Stoke Newington. Sie hatte Kincaid versprochen, sich mit ihm auf Bryan Simms’ Beerdigung zu treffen, aber wegen einer Besprechung mit ihrem Chef war sie erst mit Verspätung von der Arbeit weggekommen. Sie wusste, dass sie den Gottesdienst bereits verpasst hatte, und so steuerte sie stattdessen direkt den Friedhof an.
Abney Park gehörte wie Kensal Green in Notting Hill zu den großen viktorianischen Friedhöfen, die angelegt worden waren, nachdem die kleinen Kirchhöfe die Massen von Toten nicht mehr aufnehmen konnten. Als sie das Tor der weitläufigen Anlage passiert hatte, hielt sie an, um einen Blick auf den Plan zu werfen, den sie sich aus dem Internet ausgedruckt hatte,
und verglich ihn mit der Wegbeschreibung zu Bryan Simms’ Grabstätte.
Doch als sie das Blatt studierte, sprang ihr der Name James Braidwood ins Auge. Der große viktorianische Feuerwehrmann war hier beigesetzt, in einem Grabmal an der Hauptallee. Sie legte den Gang ein, und nach einer Weile konnte sie das marmorne Monument im Vorbeifahren bewundern.
Bald schon merkte sie, dass sie den Plan gar nicht gebraucht hätte; die vielen parkenden Autos wiesen ihr den Weg. Sie folgte der Hauptachse, bis sie die Menschenmassen sah, suchte sich einen Platz für ihren kleinen Ford und ging ein Stück weit die Straße zurück. Dann bog sie auf einen schmalen Fußpfad ab, der durch das Gras führte. Sie war froh um ihren langen Wollmantel, der sie vor dem kühlen Wind schützte.
Als sie auf dem höchsten Punkt einer Erhebung anlangte, fiel ihr Blick auf ein ganzes Meer von Trauergästen, fast alle in marineblauen Uniformen. Alles Feuerwehrleute, die gekommen waren, um einem der ihren die letzte Ehre zu erweisen.
Einige Minuten lang hielt sie sich im Hintergrund und lauschte den Worten des Priesters, die der Wind dann und wann an ihr Ohr trug. Dann ging sie ein Stück zur Seite und schob sich durch die dicht gedrängte Menge, bis sie den Sarg und die trauernden Angehörigen sehen konnte.
Die Sargträger, alles Feuerwehrleute, saßen stocksteif in ihren Ausgehuniformen auf einer Seite des Grabs. Auf der anderen erblickte sie Bryan Simms’ Familie, leicht zu erkennen an ihrer dunklen Hautfarbe. Gemmas Kehle schnürte sich zusammen,
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