Denn nie bist du allein - Crombie, D: Denn nie bist du allein - In a Dark House
ist nämlich noch da.«
Kincaid überließ Tia Cullens Obhut und entschuldigte sich, um sich im Bad umzusehen. Das Waschbecken war in einen Toilettentisch aus Eichenholz eingelassen, mit großzügig bemessenen
Ablageflächen zu beiden Seiten. Die linke Seite war leer; rechts jedoch entdeckte er inmitten eines Durcheinanders aus geöffneten Flaschen und verschütteten Kosmetika eine lila Plastikbürste mit Büscheln brauner Haare zwischen den Borsten. Daneben stand ein Zahnputzglas, an dessen Rand Spuren von Lippenstift und getrocknetem Speichel zu erkennen waren.
Kincaid packte beide Gegenstände in Plastikbeutel. Als er sich aufrichtete, fiel sein Blick auf ein Foto, das zwischen den Spiegel und den goldfarbenen Rahmen gesteckt war. Es war ein Schnappschuss von zwei Mädchen, die Arm in Arm in die Kamera lachten. Chloe Yarwood konnte er aufgrund der Videoaufnahmen unschwer wiedererkennen, doch die Farbe und die Schärfe der Aufnahme schienen ihr mehr Präsenz zu verleihen. Und anders als auf den flüchtigen Bildern, die die versteckte Kamera eingefangen hatte, ließ das Foto keinen Zweifel daran, wie jung sie noch war.
Zwar hatten Michael Yarwoods Erschütterung und seine Sorge um seine Tochter Kincaid nicht unberührt gelassen, doch sein Mitgefühl war eher abstrakt gewesen. Jetzt konnte er zum ersten Mal eine emotionale Verbindung herstellen zwischen dem hübschen, lachenden Mädchen auf dem Foto und dem verkohlten Etwas aus dem Lagerhaus. Chloe Yarwood war plötzlich ganz real.
Er blieb noch einen Moment lang mit geschlossenen Augen stehen, die Hände auf den Rand des Waschbeckens gestützt. Gott, er hoffte nur, dass die Leiche, die sie gefunden hatten, nicht die des Mädchens auf dem Foto war – nicht nur um ihres Vaters, sondern auch um ihrer selbst willen.
11
Das verfallene alte Haus in der City, das in einen Mantel von Ruß gehüllt war und schwer auf den Krücken lehnte, die an seinem Verfall teilgenommen hatten, kannte niemals einen fröhlichen Augenblick, mochte geschehen, was da wollte.
Charles Dickens, Klein Dorrit
Als sie sah, dass sie es nicht rechtzeitig zum Tee schaffen würde, rief Gemma die Jungen an und bat sie, schon einmal zu Erika Rosenthals Haus in Arundel Gardens vorauszugehen und dort auf sie zu warten. Es waren zu Fuß nur wenige Minuten.
Bevor sie das Krankenhaus wieder verlassen hatte, war sie noch kurz in die Personalabteilung gegangen und hatte sich ein Passbild von Elaine Holland geben lassen. Jetzt steckte sie das kleine Farbfoto an den Innenspiegel ihres Wagens, um während der Fahrt nach Notting Hill immer wieder einen Blick darauf werfen zu können. Was auch immer ihre Fantasie aus allem, was sie über Elaine Holland wusste – oder zu wissen glaubte – zusammengesetzt hatte, es war jedenfalls nicht dieses faszinierende und zugleich verstörende Gesicht, das sie nun anblickte.
Die kühle Strenge der magnolienblassen Haut, der auf Kinnhöhe schnurgerade geschnittenen kastanienbraunen Bobfrisur und der Augen, die auf dem Foto dunkel wirkten, wenngleich Gemma vermutete, dass sich in ihnen die gleichen rotgoldenen Glanzlichter verbargen, die auch in den Haaren
funkelten; dazu die ausgeprägten Wangenknochen und der entschlossene Ausdruck des schmalen Mundes – all das hatte Gemma erwartet. Aber wenn sie sich noch einen Hauch Make-up dazudachte und sich die Züge etwas entspannter, den fest geschlossenen Mund leicht geöffnet vorstellte, dann wusste sie, dass das Resultat einfach umwerfend sein musste. Jetzt hatte sie ein etwas klareres Bild von jener Frau, die ihre Umgebung stets auf Distanz hielt, aber im hintersten Fach ihres Kleiderschranks eine geheime Abendgarderobe aufbewahrte.
Sie grübelte immer noch über diese Widersprüche nach, als sie in Arundel Gardens ankam. Gemma war ein wenig überrascht, als Erika, die sonst nicht dazu neigte, ihre Gefühle offen zu zeigen, sie zur Begrüßung herzlich umarmte.
»Gemma, wie schön, Sie zu sehen. Die Jungen sind schon da und haben schon mal mit dem Tee und den Sandwichs angefangen.«
»Tut mir Leid, dass ich gestern Abend so kurzfristig absagen musste«, sagte Gemma, als Erika sie ins Haus führte.
»Das macht doch nichts. Ich muss gestehen, in meinem Alter ist man eigentlich ganz froh, wenn man den Abend einfach nur gemütlich mit einem Buch am Kamin verbringen kann. Und irgendwann werde ich Ihren Zukünftigen schon noch kennen lernen, da bin ich sicher.«
Gemma dachte, dass es Kincaid, der vor kurzem
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