Denn nie bist du allein - Crombie, D: Denn nie bist du allein - In a Dark House
Feierabend.«
»Okay.« Kincaid brach das Schweigen einige Minuten später, als sie den Bahnhof Paddington passierten und in die Bishop’s Bridge Road einbogen. »Vielleicht bin ich ein bisschen heftig mit Bell umgesprungen. Und ein bisschen unwirsch mit Ihnen. Tut mir Leid.«
»Taktgefühl scheint nicht gerade Bells Stärke zu sein«, erwiderte Cullen gleichmütig.
»Ihre aber schon.«
»Na ja, ich gebe mir Mühe.« Cullen lächelte.
»Aber bilden Sie sich bloß nicht zu viel drauf ein. Ich sage auch nicht, dass sie Recht hatte. Ich stochere nicht gerne im Dunkeln, und wir wissen einfach noch zu wenig. Und ich
werde auch einem Mann, der befürchtet, sein Kind verloren zu haben, nicht die Daumenschrauben anlegen, ganz unabhängig von seiner Position.«
»Glauben Sie, er hat die Wahrheit gesagt, als er uns erzählte, warum er versucht hat, sie anzurufen?«
»Nein. Aber ich habe noch nicht herausgefunden, warum er hätte lügen sollen.« Die Bishops Bridge Road war in die Westbourne Grove übergegangen, und Kincaid hielt an einer roten Ampel. »Wie war die Adresse noch mal?«
Cullen sah in seinen Notizen nach. »Denbigh Road. Soll ich sie im Stadtplan suchen?«
»Nein. Ich kenne die Straße.« Die Denbigh Road verlief parallel zur Portobello, doch der eine Block machte den Unterschied aus zwischen einer ruhigen Wohngegend und einer lebhaften Einkaufsstraße, in der es zuging wie in einem Bienenstock.
Nachdem sie den Naturkostladen an der Westbourne Grove passiert hatten, wo Gemma gerne einkaufte, bog Kincaid nach links in die Denbigh Road ab. Obwohl die Luxussanierung in Notting Hill in vollem Gang war, gab es immer noch Ecken, die von der Renovierungswelle verschont geblieben waren, und Kincaid fragte sich, zu welcher Sorte Chloe Yarwoods Domizil wohl gehörte.
Er fand die Adresse ohne Probleme und stellte fest, dass es sich um ein Mehrfamilienhaus handelte; einen soliden, schmucklosen roten Backsteinbau aus den Dreißigerjahren. Auf dem Klingelschild für den ersten Stock stand Tia Fosters Name. Sie läuteten, und nachdem Cullen kurz erklärt hatte, wer sie waren, ließ Tia Foster sie mit dem Türöffner ein.
An der Wohnungstür nahm Chloe Yarwoods Mitbewohnerin sie in Empfang, bekleidet mit engen Jeans und einem schlabbrigen weißen Baumwollsweater. Sie frottierte gerade ihre tropfnassen Haare mit einem Handtuch. »Sorry«, sagte sie, »ich bin gerade von einem Kurztrip nach Spanien zurückgekommen.
Musste mir erst mal den ganzen Reisedreck abwaschen.« Sie war Mitte zwanzig, und trotz des legeren Aufzugs machte sie einen eleganten Eindruck; ihr leicht gebräuntes Gesicht war frei von Make-up, ihr vom Duschen nasses Haar dunkelblond. Man hätte sie eher attraktiv als hübsch genannt, und sie hatte jene Körperspannung, die garantierte, dass ihr gutes Aussehen ihr auch bis ins höhere Alter erhalten bleiben würde. »Sie sagten, Sie wollten Chloe sprechen?«, fragte sie, nachdem die beiden sich vorgestellt hatten.
»Haben Sie Ihre Mitbewohnerin in den letzten Tagen gesehen, Miss Foster?«, fragte Kincaid.
»Nein, ich war ja wie gesagt in Spanien – am Mittwoch bin ich geflogen. Sagen Sie, kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Ich wollte gerade eine Kanne kochen.«
»Ja, das wäre nett«, antwortete Cullen, noch ehe Kincaid ablehnen konnte. »Darf ich Ihnen helfen?«, fügte Cullen hinzu und folgte ihr sogleich mit dem Übereifer eines jungen Hundes in die Küche. Kincaid fragte sich, ob die demonstrative Hilfsbereitschaft seines Partners etwas damit zu tun hatte, dass die junge Frau unter ihrem dünnen Baumwollpulli offensichtlich keinen BH trug.
Kincaid nutzte die Gelegenheit, um sich statt der Bewohnerin einmal die Wohnung etwas näher anzusehen. Hier war eindeutig vor kurzem gründlich renoviert worden. Überall glänzte nagelneues, helles Holzparkett; der cremefarbene Anstrich schien ebenfalls neu, ebenso wie die moderne Deckenbeleuchtung. Und da das Gebäude als Mietshaus geplant war, waren die Wohnungen geräumig und gut geschnitten, anders als viele Apartments in umgebauten viktorianischen Wohnhäusern. Wie konnten zwei junge Frauen sich so etwas leisten? Steuerte Michael Yarwood vielleicht doch etwas zum Unterhalt seiner Tochter bei?
Es gab jedoch auch Anzeichen dafür, dass die Geldquelle nicht unerschöpf lich war. Den Blickfang des Wohnzimmers
bildete zwar ein teures Ledersofa, doch die wenigen restlichen Möbel sahen eher nach Ikea aus. Die abstrakten Bilder an den Wänden waren
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