Denn vergeben wird dir nie
Schule und im Restau
rant, von denen ich am selben Tag erfahren hatte. Aber
wenn es tatsächlich um einen weiteren Mord ging …
Es war, als ob die Karten noch einmal neu gemischt
worden wären. Wenn der Kerl, der mich gerade angerufen
hatte, wirklich etwas wusste und mir den Namen eines
Mordopfers lieferte, dann dürfte es nicht allzu schwierig
sein, die weiteren Fakten dieses Falles aufzuspüren.
Natürlich konnte alles eine Ente sein, die willkommene
Möglichkeit für einen Betrüger, auf die Schnelle fünf
tausend zu machen. Ich musste mich entscheiden, ob ich
bereit war, dieses Risiko einzugehen.
Ich stand vor dem Computer und blickte auf den
Bildschirm hinunter. Ich las noch einmal meine Beschrei
bung von Andrea in den letzten Momenten, die ich mit ihr
verbracht hatte, und da wusste ich, dass es jeden Cent wert
war, den ich je in meinem Leben verdienen würde, wenn
Rob Westerfield dadurch wieder hinter Gitter käme.
Ich räumte die Küche auf und schaltete den Fernseher
ein, um die Lokalnachrichten zu sehen. In den Sportnach
richten wurden Ausschnitte aus einem Basketballspiel
gezeigt. Der entscheidende Korb wurde von Teddy
Cavanaugh erzielt, und als ich hinstarrte, sah ich das
Gesicht meines Halbbruders, den ich nicht kannte.
Er sah beinahe wie ein Spiegelbild von mir aus.
Natürlich war er jünger, männlicher, aber unsere Augen,
Nase, Mund und Wangenknochen waren die gleichen. Er
schaute direkt in die Kamera, und ich hatte das Gefühl, als
ob wir uns gegenseitig anstarrten.
Und noch bevor ich den Sender wechseln konnte,
begannen die Cheerleader, als wollten sie sich über mich
lustig machen, seinen Namen zu singen.
22
MRS. HILMER HATTE MIR gesagt, dass Joan Lashley
St. Martin nicht weit hinter Graymoor wohne, wo sich ein
Franziskanerkloster und ein diesem angeschlossenes
Obdachlosenasyl befindet. Als ich am wunderschönen
Anwesen von Graymoor vorbeifuhr, entsann ich mich
vage, einige Male mit meinen Eltern und Andrea den
gewundenen Weg hinaufgefahren zu sein, um in der
Klosterkirche an der Messe teilzunehmen.
Mutter erzählte manchmal von dem letzten Mal, an dem
wir dort gewesen waren; es war kurz vor Andreas Tod
gewesen. Andrea sei an diesem Tag in alberner Laune
gewesen und habe mir ständig Witze ins Ohr geflüstert;
während der Predigt habe ich sogar einmal laut lachen
müssen. Meine Mutter habe uns daraufhin auseinander
gesetzt, und nach der Messe habe sie zu meinem Vater
gesagt, wir sollten sofort nach Hause fahren, das
Mittagessen im Bear Mountain Inn, auf das wir uns alle
gefreut hatten, sei hiermit gestrichen.
»Nicht einmal Andrea konnte deinen Vater an diesem
Tag umstimmen«, erinnerte sich Mutter. »Aber als ein
paar Wochen später alles passiert ist, hat es mir Leid
getan, dass wir nicht dieses letzte Mal glücklich beim
Brunch zusammen gewesen sind.«
Am Tag, bevor … das letzte Mal glücklich zusammen … Ich fragte mich, ob mir diese Art von Bemerkungen je aus
dem Kopf gehen würden. So bald jedenfalls noch nicht,
dachte ich, als ich die Fahrt verlangsamte, um Joans
Hausnummer nicht zu verpassen.
Sie wohnte in einem dreistöckigen Holzhaus in einer
schönen, bewaldeten Umgebung. Die weißen Schindeln
glänzten in der Sonne im Kontrast zu den dunkelgrünen
Fensterläden, welche die Fenster rahmten. Ich ließ das
Auto an der halbkreisförmigen Auffahrt stehen, stieg die
Stufen zum Eingang hinauf und klingelte.
Joan öffnete die Haustür. Ich hatte sie als großes
Mädchen in Erinnerung, aber jetzt hatte ich den Eindruck,
dass sie in den zweiundzwanzig Jahren um keinen Zoll
gewachsen war. Ihr ehedem langes braunes Haar reichte
inzwischen nur noch bis zum Kragen, und ihre dünne
Figur war etwas fülliger geworden. Ich hatte sie als sehr
attraktiv in Erinnerung. Ich würde sagen, die Beschrei
bung war immer noch zutreffend, zumindest wenn sie
lächelte. Sie war einer dieser Menschen, deren Lächeln so
zauberhaft und herzlich ist, dass das ganze Gesicht als
schön erscheint. Als wir einander anblickten, begannen
Joans grüne Augen zu glänzen, und sie ergriff meine
Hände.
»Kleine Ellie«, sagte sie. »Du lieber Gott, und ich hatte
gedacht, ich wäre größer als du. Du warst so ein kleines
Kind.«
Ich lachte. »Ich weiß. Alle reagieren so, die mich von
früher kennen.«
Sie hakte meinen Arm unter. »Komm rein, ich habe
Kaffee aufgesetzt und ein paar backfertige Muffins in den
Ofen gesteckt. Es ist ein bisschen
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