Department 19 - Die Wiederkehr: Thriller (German Edition)
an der Reihe war, während eine leise Stimme in seinem Hinterkopf ihm die ganze Zeit riet, er solle seine Zeit nicht vergeuden.
Du verlängerst dein Elend nur, flüsterte sie. Das ist alles.
Frankenstein stand von der Bank auf, ging nach Norden davon und ignorierte das Starren der Touristen und die auf ihn zeigenden Finger ihrer Kinder. Er überquerte die Seine auf der Rue de la Cité, wandte sich nach rechts und bog dann links auf die Rue Vieille du Temple ab. Er ging rasch, hielt den Kopf gesenkt und hatte seinen schäbigen Mantel aus zweiter Hand eng um sich gezogen, als von der anderen Straßenseite her eine Stimme erklang, die einen Namen rief, der die Schleusen seiner Erinnerung weit öffnete.
»Henry Victor?«
Genau wie auf dem LKW-Parkplatz nördlich von Köln öffneten sich Schleusen, die Frankenstein mit einer überwältigenden Sturzflut aus nicht entzifferbaren Informationen überschütteten. Er taumelte, als sein Verstand sich mit den vergessenen Bildern und Geräuschen eines ganzen Lebens füllte; sie waren durcheinander gewürfelt, bis zur Abstraktion ungeordnet, aber er hatte einige Augenblicke lang das Gefühl, vor Erleichterung weinen zu müssen. Alle diese Dinge waren Teile eines größeren Ganzen, das ihn mit der Hoffnung erfüllte, der Mann, der er einst gewesen war, sei vielleicht doch nicht für immer verloren.
Dann verschwanden die Erinnerungen so rasch, wie sie gekommen waren, und er sah einen Mann vor sich stehen, der ihn lächelnd betrachtete.
»Henry Victor!«, rief er aus. »Du bist’s tatsächlich!«
Der Mann war groß, auch wenn Frankenstein ihn um einen halben Kopf überragte. Mit einem schwarzen Mantel, einem dunkelblauen Anzug und einem cremeweißen Oberhemd ohne Krawatte war er sehr elegant gekleidet. Er hatte ein schmales Gesicht, und sein aschblondes Haar war links pedantisch genau gescheitelt. Jetzt betrachtete er das Monster sichtlich ungläubig.
»Kennen wir uns?«, fragte Frankenstein langsam.
Der Mann runzelte die Stirn, trat einen halben Schritt zurück.
»Du bist doch Henry Victor, nicht wahr?«, fragte er. »Ich bin’s, Latour. Ich weiß, dass wir uns seit fast einem Jahrhundert nicht mehr gesehen haben, aber ich hätte dich nicht für so vergesslich gehalten.
Frankenstein betrachtete den Mann. Er war bestimmt nicht älter als vierzig, vielleicht ein paar Jahre jünger.
»Seit fast einem Jahrhundert?«, wiederholte er. »Wie ist das möglich?«
Latour kniff die Augen zusammen, und Frankenstein glaubte sekundenlang, sie in den Winkeln rot leuchten zu sehen. Dann verschwand dieses Leuchten, und der Unbekannte machte wieder ein freundliches Gesicht.
»Du erinnerst dich nicht an mich, was?«, fragte er.
»Das geht keinen etwas an, aber meine Erinnerung reicht nur ungefähr zehn Wochen zurück«, knurrte Frankenstein. Er ließ zu, dass seine Stimme zornig grollte. »Trotzdem ist es unmöglich, dass einer von uns beiden vor hundert Jahren gelebt haben soll. Eine lächerliche Behauptung!«
»Großer Gott«, sagte Latour leise. »Ist das dein Ernst? Du weiß nichts mehr?«
Frankenstein gab keine Antwort; er ließ Latour einfach stehen und schritt auf der Rue Vieille du Temple aus, ohne sich noch einmal umzusehen. Aber Latour erschien sofort wieder vor ihm und vertrat ihm den Weg.
»Ich bin’s müde, …«
»Lass mich bitte ausreden«, unterbrach Latour ihn. Er hatte große Augen bekommen, mit denen er Frankenstein fast mitleidig betrachtete. »Du musst völlig durcheinander sein. Und wenn ich ganz ehrlich sein soll, scheint es dir im Augenblick nicht gerade glänzend zu gehen. Stimmt diese Einschätzung?«
Frankenstein sah an seiner schäbigen Kleidung hinab.
»Und wenn’s so wäre?«, fragte er. »Was willst du dagegen tun?«
» Ich kenne dich «, sagte Latour, dessen Stimme plötzlich leidenschaftlich klang. »Wenn du sagst, dass du keine Erinnerungen hast, glaube ich dir. Aber es stimmt trotzdem, ob du’s lächerlich findest oder nicht. Also kann ich dir vielleicht nützlich sein. Vielleicht kann ich dir helfen, dich wieder zu erinnern.«
»Wie würdest du das anfangen?«, wollte Frankenstein wissen. Seine Stimme klang barsch, aber er gestattete sich vorsichtig ein wenig Hoffnung.
Hat dieser Mann mich früher gekannt, kann er mir vielleicht wirklich helfen.
»Vielleicht am besten mit einem Abendessen«, antwortete Latour lächelnd. »Du siehst ganz ausgehungert aus. Ich habe einen Tisch in einem Restaurant, das in fünf Minuten zu Fuß zu erreichen
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