Department 19 - Die Wiederkehr: Thriller (German Edition)
ist. Wir könnten beim Essen miteinander reden, und vielleicht kommen deine Erinnerungen dabei zurück. Tun sie das nicht, scheiden wir als Freunde. Schließlich haben wir Heiligabend, an dem niemand allein sein sollte. Na, was hältst du davon?«
In einem Punkt hatte Latour recht: Frankenstein war ausgehungert. Latour sah zu, wie sein Tischgenosse eine große Portion Gänseleber als Vorspeise und ein Rinderfilet Chateaubriand für zwei Personen verschlang und alles mit einer Flasche Château Batailley herunterspülte. Aber in Bezug auf sein Gedächtnis hatte er sich geirrt: Nichts von dem, was er sagte, rief irgendeine Reaktion des Monsters hervor, dessen Erinnerungen völlig verschüttet zu sein schienen.
Dies ist ein erstaunlich glücklicher Zufall, dachte er, während er dem Riesen beim Essen zusah. Bemerkenswert glücklich .
Er erzählte Frankenstein von ihren gemeinsamen Erlebnissen im weit zurückliegenden Sommer des Jahres 1923 – wo sie gewesen waren, wie die Männer und Frauen geheißen hatten, in deren Kreisen sie sich bewegt hatten. Ihre Namen hätten jeden unbeteiligten Zuhörer beeindruckt, aber für das Monster waren sie bedeutungslos.
Frankenstein hörte höflich zu, als Latour ihm mit beginnender Frustration erklärte, dass sie mit den genialsten Köpfen der damaligen Generation gegessen und getrunken und diskutiert hatten, dass sie auf Partys und Abendgesellschaften gewesen waren, über die Klatschkolumnisten liebend gern berichtet hätten … wenn sie eine Einladung hätten bekommen können. Er hörte zu und entschuldigte sich dann dafür, dass er sich leider nicht an die berühmten Maler und Schriftsteller erinnern könne, in deren Bann Latour noch heute zu stehen scheine.
Als die beiden Männer satt waren, schlenderten sie nach Norden ins Herz des Marais. Ihre Unterhaltung blieb liebenswürdig freundlich, aber sie wussten beide, dass sie zwecklos war. Frankensteins Erinnerung reichte immer nur bis zu jenem Moment ihres unverhofften Wiedersehens zurück; er blieb äußerst skeptisch, was Latours Erzählungen von ihrer zuvor gemeinsam verbrachten Zeit betraf.
Er glaubte, dass der Mann ihn gekannt hatte, davon hatte er sich überzeugen lassen; seine Erzählungen waren viel zu detailliert, viel zu komplex, als dass sie nur erfunden sein konnten. Aber das Jahr 1923, auf das Latour immer wieder zurückkam – das konnte Frankenstein unmöglich glauben. Er hatte seinen Begleiter schließlich geradeheraus gefragt, wie so etwas möglich sein könne, aber Latour hatte die Antwort verweigert.
»Manche Dinge musst du selbst herausbekommen«, hatte er nur gesagt.
Sie überquerten den Place de la République und folgten dem Boulevard de Magenta nach Nordwesten, während sie über Belanglosigkeiten sprachen: das Wetter, den Verkehr, die Touristenhorden. Trotz aller Zweifel hatte Frankenstein es nicht eilig, seinen Begleiter zu verlassen, weil er ohnehin kein bestimmtes Ziel hatte.
Als die Männer eine schwach beleuchtete Einfahrt passierten, war aus dem Halbdunkel eine Frauenstimme zu hören.
»Beide zusammen für sechzig«, sagte sie, und ihre Worte verschwammen leicht, als sie aus den Schatten echoten.
Latour machte halt und bedachte Frankenstein mit einem Blick, der ihn erschreckte, weil aus ihm nackter Hunger sprach. Plötzlich wollte Frankenstein nichts mehr mit dem Mann zu tun haben; er wusste nicht, weshalb, aber dieses Gefühl war deutlich und stark. Er wollte gerade eine Entschuldigung formulieren, als Latour ihn am Arm packte und in die Einfahrt zog.
Die Stimme gehörte einer jungen Frau, die fast noch ein Teenager war. Sie lehnte blass und knochig in den Schatten an einer Mauer, rauchte eine Zigarette und sah den beiden näher kommenden Männern gelassen entgegen. Sie öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, aber dazu kam sie nicht mehr.
Während Frankenstein ihn beobachtete, veränderten Latours Augen sich. Ein dunkles Rot, im Licht der flackernden nächsten Straßenlampe fast schwarz, füllte sie aus, und als sie mit unnatürlichem Feuer zu glühen begannen, ließen sie Frankenstein vor namenlosem Entsetzen erstarren. Dann bewegte Latour sich übermenschlich schnell, bekam die junge Frau am Hals zu fassen und riss sie in die Luft.
Bevor Frankenstein reagieren konnte, brachte Latour ihre blasse Kehle an seinen Mund und schlug die Zähne hinein. Als Blut aus ihrer Halsschlagader zu strömen begann, versuchte die junge Frau zu schreien, aber Latour hielt ihr den Mund so fest zu,
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