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Der 13. Brief

Titel: Der 13. Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucie Klassen
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im vierten Stock des Schulgebäudes auf dem leeren Flur vor dem Klassenzimmer 10d stand, zögerte ich dann doch einen Moment.
    Es war lächerlich. Mein Leben lang hatte ich nichts anderes getan, als zur Schule zu gehen. Ich hatte mein Abi bestanden, da würde ich die zehnte doch mit Leichtigkeit noch mal packen.
    Allerdings hatte ich eben erfahren, dass es sich um eine Französisch-Klasse handelte und ich hatte leider noch nie am Französischunterricht teilgenommen. Die anderen waren mir also gut vier Jahre voraus. Und noch mal Mathe machen zu müssen, war auch kein Grund für einen Freudentanz.
    Außerdem ist der erste Schritt in eine neue Klasse immer beschissen, vor allem, wenn man nicht gleich als die Durchgeknallte erkannt werden will, die man ist. Schnell rief ich mir meine Rolle noch einmal ins Gedächtnis. Dank der Theater-AG bereitete mir zumindest das Lernen von Text keine Schwierigkeiten.
    Einen Augenblick lang dachte ich über das Freundschaftsband nach. Damit pokerte ich verdammt hoch. Ich beschloss, es nur im Notfall einzusetzen, und versteckte es gut in meinem Ärmel.
    Endlich gab ich mir einen Ruck, klopfte und trat ein.
    Augenblicklich ließ der Lehrer die Kreide sinken und alle Köpfe drehten sich in meine Richtung.
    Showtime!
    »Ähm –« Ich räusperte mich. »Mein Name ist Lila Ziegler. Ich soll heute in der 10d anfangen, bin ich da richtig?«
    Der Lehrer runzelte die Stirn. Er war groß und so dünn, dass er schon magersüchtig wirkte. Sein Gesicht hatte eine leicht graue Färbung, die mich auf einen Kettenraucher tippen ließ. Seine farblosen Locken hätte er in dieser Länge vielleicht mit fünfunddreißig noch tragen können, aber er ging auf die fünfzig zu, hatte Geheimratsecken und wäre mit einem kürzeren Haarschnitt besser beraten gewesen.
    Er blätterte im Klassenbuch.
    »Ah, ja. Lila Ziegler, da steht es«, murmelte er so undeutlich, dass ich einen Augenblick glaubte, Wasser im Ohr zu haben.
    Ich rüttelte an meinem Ohrläppchen.
    »Entschuldigen Sie die Verspätung, ich musste mich noch beim Rektor melden«, log ich, weil Verspätungen am ersten Tag erfahrungsgemäß eher schlecht ankommen.
    »Schon gut. Mein Name ist Matthis Dittmer, ich bin dein Klassenlehrer, Deutsch und Französisch.«
    Ich hatte keinen Hörfehler. Er hatte eine leichte Hasenscharte, lispelte stark und seine leise Stimme machte die Sache nicht besser.
    »Willst du nach vorn kommen und dich kurz vorstellen?«
    Ich nickte mit einem Gesicht, das das Gegenteil sagte.
    Zweiunddreißig neugierige Augenpaare folgten mir, als ich zwischen den Tischen hindurchging und mich neben Dittmer ans Lehrerpult stellte.
    »Hi!«, sagte ich und ließ meinen Blick über die Klasse wandern.
    Rechts außen am Fenster erkannte ich sofort Stascheks Tochter. Ihr dickes, glänzend braunes Kastanienhaar war unverkennbar. Und auch das pummeligere Mädchen neben ihr hatte ich schon auf einem Foto gesehen. Bode oder Schubert, vermutete ich.
    »Also, mein Name ist Lila und ich bin sechzehn Jahre alt. Meine Mutter und ich sind letzte Woche hierhergezogen. Meine Hobbys sind Inlinern, Volleyball – und Schwimmen natürlich.« Ich warf dem Lehrer einen unsicheren Blick zu. »Reicht das?«
    »Natürlich. Du kannst dich da drüben hinsetzen, neben Jendrick.«
    Dittmer zeigte mit einem nikotingelben Finger auf einen freien Platz in der vorletzten Reihe, neben einem großen, verschlafen wirkenden Jungen.
    Auf den ersten Blick wusste ich, warum der Platz frei war. In jeder Klasse gibt es einen, der mehr Pickel im Gesicht hat als ein Lebkuchenmann Rosinen und dem seine Eltern nicht gesagt haben, dass es sich wie ein Wunder auf die sozialen Kontakte auswirkt, wenn man einmal pro Woche duscht – oder das T-Shirt zumindest nach dem Sportunterricht wechselt.
    Der Typ hatte fettige, dunkle Haare und einen Überbiss. Er hing vornübergesunken auf seinem Tisch und kritzelte in seinem Heft herum, die Zunge an der Nasenspitze wie ein Dreijähriger, der seinen ersten Tannenbaum malt.
    »Hi!«, sagte ich zu ihm. Der süßliche Geruch lange nicht ausgespülter Achselhaare stieg mir in die Nase.
    Er grüßte nicht zurück. Dafür musterte er mich zu lange und schien nicht einmal zu bemerken, dass es zu lange war.
    Auch ich neigte normalerweise nicht dazu, mich ausgerechnet neben solche Typen zu setzen, und beschloss, die Sitzordnung bei nächster Gelegenheit zu ändern.
    »Wir sind gerade bei Faust«, informierte mich Dittmer so undeutlich, dass mir erst reichlich

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