Der 13. Engel
versank in der Wand links von ihnen, als wäre sie nur eine Illusion.
»Hast … hast du das gesehen?«, stammelte Finn.
»Meinst du den Stein oder den Schatten dort drüben an der Tür, der aussieht wie ein Werwolf?«, fragte Amy mit bibbernder Stimme.
»Wo, wo?«, rief Finn panisch.
»Er … er ist bereits wieder verschwunden.«
Finn schwankte. »Ich wette, er steht jetzt direkt hinter uns. So ist das immer in diesen Gruselgeschichten.«
»Das glaube ich nicht. Wäre es ein echter Werwolf gewesen, hätte er uns längst angegriffen.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
Das war Amy ganz und gar nicht, trotzdem sagte sie leise: »Stünde er hinter uns, müssten wir längst seinen fauligen Atem riechen, den er uns in den Nacken bläst.«
»Vielleicht kaut er ja Minze«, entgegnete Finn und lachte nervös. »Du hast recht«, sagte er dann. »Ich bin kein Held, ich habe schreckliche Angst.«
Amy lächelte gequält. Was sollte sie darauf antworten? Es ging ihr selber nicht besser. Ihr Mund war ausgedörrt und ihre Hände waren feucht. Ihr Herz schlug so heftig, als wollte es zerspringen. Und dennoch hatte sie nicht vor, sich von diesen Erscheinungen ins Bockshorn jagen zu lassen. »Dort vorne ist eine weitere Tür«, sagte sie.
In der Dunkelheit war sie kaum zu erkennen und Amy wäre wohl einfach an ihr vorübergegangen, wenn unter der Tür nicht ein schmaler Streifen fahles Mondlicht hindurchgeschimmert hätte.
Staunend betraten die beiden einen großen, kreisrunden Saal. Die hoch über ihnen liegende Decke bestand aus einer Glaskuppel, die ihnen einen ungetrübten Blick auf den Nachthimmel gestattete: ein Meer aus funkelnden Sternen, das sich um die milchig weiße Sichel des Mondes scharte.
Mit einem Mal fiel alle Furcht von Amy ab. »Wie wunderschön«, hauchte sie ergriffen.
Neben ihr drehte sich Finn um die eigene Achse. »Dort oben gibt es eine Galerie mit weiteren Türen. Wie viele Zimmer hat dieses verfluchte Haus denn noch?«
»Aurelius!«, rief Amy plötzlich. »Wo sind Sie?«
Schlagartig wurde es eiskalt in dem Saal und ihr Atem bildete kleine graue Wölkchen vor ihren Lippen. Amy konnte regelrecht zusehen, wie sich Eisblumen knisternd über das gläserne Kuppeldach ausbreiteten.
»Was hast du getan?«, wisperte Finn verzweifelt. Trotz der Kälte glitzerten kleine Schweißperlen auf seiner Stirn. Bevor Amy etwas erwidern konnte, dröhnte ein grässlicher Schrei durch den Raum. So schrill und schaurig, dass er ihnen durch Mark und Bein ging. Um sie herum gerieten die Dinge in Bewegung. Alte Vasen und Porzellanfiguren, die zerbrochen auf dem Boden gelegen hatten, erhoben sich in die Lüfte. Ein Stuhl zischte quer durch den Raum. Gemälde rissen sich von den Wänden los und stürzten sich angriffslustig auf Amy und Finn, die sich zu Boden warfen und schützend die Hände über die Köpfe legten. Platt auf den Boden gedrückt, robbte Finn auf Amy zu. »Nichts wie raus hier, bevor dieses Spukhaus uns noch umbringt!«, rief er ihr über das Klappern und Klirren der umhersausenden Gegenstände zu.
»Nein«, sagte Amy entschieden. »Ich gebe nicht auf!« Sie blinzelte zwischen ihren Armen hindurch, als eine Kaminuhr, deren Zeiger sich wie verrückt drehten, dicht an ihrem Gesicht vorbeiflog. Steckte wirklich ein Geist dahinter? Oder hatten sie es mit einem raffinierten Zaubertrick zu tun? Jemand, der freiwillig in einem Spukhaus lebte, konnte nur einen Grund dafür haben: die Einsamkeit. Besucher müsste er an einem solchen Ort nicht fürchten. Und sicher würde so jemand alles unternehmen, dass die Gerüchte über das Spukhaus am Leben blieben. Plötzlich schüttelte Amy energisch den Kopf. »Es gibt keine Geister!« Sie sprang auf und schrie: »Ich weiß, dass Sie hier sind, Aurelius! Kommen Sie heraus! Oder haben Sie Angst vor zwei Kindern?«
So plötzlich, wie es begonnen hatte, verstummte das schaurige Geheul. Die umherschwirrenden Gegenstände stürzten zu Boden, wo sie in noch mehr Scherben zersprangen, und auf dem Glasdach begannen die Eisblumen zu schmelzen. Stille breitete sich in dem alten Gemäuer aus. Eine neue Art von Stille, die etwas Neugieriges und Erwartungsvolles an sich hatte.
»Was hat das nun wieder zu bedeuten?« Finn stand langsam auf, wobei er sich misstrauisch nach allen Seiten umschaute, als könnte er nicht glauben, dass nun alles vorbei sein sollte.
»Nur ein paar dumme Zaubertricks«, sagte Amy. »So ist es doch, nicht wahr, Aurelius?«
»Glaubst du das, ja?«,
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