Der 13. Engel
wollen?«
Nun wurden Aurelius’ Augen schmal und ein lauernder Ausdruck erschien darin. »Es ist eine Geschichte, die nicht weniger düster ist als die des ersten Königs«, sagte er mit einem drohenden Unterton in der Stimme. »Die Geschichte eines Mörders. Willst du sie immer noch hören?«
»Wir sollten jetzt lieber gehen«, meinte Finn und zog an Amys Arm. Sie rührte sich jedoch nicht von der Stelle.
»Ja«, sagte sie.
Aurelius lachte heiser auf. »Dann wisse, dass es meine eigene Geschichte ist. Ich habe meine Familie umgebracht. Jene, die mir am meisten bedeutet haben. Das war der Preis dafür, dass ich dieses Wissen erlangt habe.« Ein unheilvolles Glühen war in seine Augen getreten, während sich die Schatten unter seiner Kapuze verdichteten, sodass von seinen Gesichtszügen kaum mehr etwas zu erkennen war.
Amy stolperte ein paar Schritte zurück. Finn ergriff ihre Hand und zerrte sie Richtung Ausgang. Doch noch bevor sie die Hälfte der Strecke geschafft hatten, fiel die Tür auf einen Wink von Aurelius hin krachend ins Schloss. »NEIN!«, rief er außer sich. »Ihr habt gefragt und nun sollt ihr auch der Antwort lauschen!« Erneut breitete sich eisige Kälte in dem Raum aus und ließ kleine Dampfwolken von Amys und Finns Lippen aufsteigen. »Was haben Sie mit uns vor?«, fragte sie verzweifelt.
Aurelius’ glühende Augen fixierten sie finster und obwohl er sich nicht bewegte, glitt die Kaminwand wie eine Theaterkulisse von hinten an ihn heran, sodass er nun genau unter dem Gemälde stand. Jetzt konnte Amy erkennen, was darauf zu sehen war. Es zeigte einen wesentlich jüngeren und glücklicheren Aurelius, der hinter einer lächelnden Frau stand, die zwei kleine dunkellockige Mädchen in den Armen hielt. »Es ist schon lange her, da war ich ein berühmter Alchimist. Die Menschen kamen von nah und fern zu mir, um meine Hilfe zu erbitten«, echote seine Stimme durch den Saal. »Eines Tages suchte mich ein Vorfahr von Prinz Henry auf und befahl mir, den Fluch zu brechen, der auf den Engeln lastet. Seine Frau war todkrank und er hoffte, die Engel würden sie aus Dankbarkeit heilen, wenn er sie erlöste. Mithilfe des Schwarzen Sterns hatte er es bereits versucht und so herausgefunden, dass dieser nur ein funkelnder Klunker ist. Also verlangte er von mir, einen Weg zu finden, um das Unmögliche zu bewerkstelligen. Auf diese Weise erfuhr ich die Wahrheit über die Engel.« Ein tiefes Grollen entstieg seiner Kehle. »Niemals hätte ich mich darauf einlassen dürfen. Aber was sollte ich tun? Einem König verweigert man seine Hilfe nicht. Ich tat also mein Möglichstes, doch was ich auch versuchte, nichts half. Keiner der herkömmlichen Bann- oder Fluchbrecher bewirkte etwas. Ich begann also zu experimentieren. Es waren äußerst gefährliche Versuche und es kam, wie es kommen musste: Eines der Experimente ging schief und es gab eine verheerende Explosion in meinem Labor. Feuer brach aus und giftiger Rauch strömte in alle Bereiche des Hauses. Er tötete meine Frau und meine beiden Töchter. Das, was mir am wertvollsten auf dieser Welt war. Und ich alleine trage die Schuld an ihrem Tod.« Raues Schluchzen drang unter der Kapuze hervor.
Amy empfand plötzlich Mitleid für Aurelius. Er hatte nur helfen wollen und war dafür auf grausame Weise bestraft worden. Neben ihr gab Finn ein unverständliches Krächzen von sich. Als sie aufblickte, bemerkte sie, dass er ganz grün um die Nase war. »Was ist los?«
Finn beugte sich vor und röchelte: »Wie … wie konnte er … überleben, wenn alle … alle anderen starben?« Er öffnete und schloss ein paar Mal den Mund, als wollte er noch mehr sagen, aber er brachte nichts mehr heraus.
Erst jetzt begriff Amy, was Finn längst erkannt hatte. Als hätte Aurelius ihre Gedanken gelesen, sagte er: »Niemand hat überlebt. Niemand.« Seine Gestalt wuchs bedrohlich in die Höhe. Schneller und schneller. »Dies ist mein Grab und mein Kerker, denn alles hat seinen Preis. Und nun geht. Habt ihr nicht gehört? RAUS HIER! UND KEHRT JA NIE WIEDER ZURÜCK!«
Cornelius
Seitdem sie aus dem Spukhaus geflohen waren, hatte Amy kein Wort mehr gesagt. Stumm ging sie neben Finn durch den Park. Als sie an der Statue des Zauberers vorbeikamen, hatte sie wieder das Gefühl, dass sie sich bewegte. Vielleicht war Aurelius dafür verantwortlich, vielleicht gab es hier auch noch mehr Geister. Amy dachte fröstelnd an die tote Familie des Alchimisten. Am liebsten hätte sie Finns Hand
Weitere Kostenlose Bücher