Der 21. Juli
Erklärungen, ein paar Worte und Blicke genügten, um sich verstehen. Blicke vor allem. Oder bildete er es sich ein? In der Ferne warfen Bomber ihre Last ab auf Berlin.
Ein dumpfer Knall nahe der Tür. Die Tür ächzte, dann Stille. Wo war Wehling? Werdin mühte sich zu hören, was draußen geschehen war. Aber es war nichts zu vernehmen außer dem Grummeln und Bellen des Bombenangriffs. Werdin wartete auf Wehling und den Tod, doch es verging Minute um Minute, Stunde um Stunde, ohne dass sein Mörder zurückkehrte. Ihm musste etwas zugestoßen sein. Oder etwas hatte ihn von seinem Vorhaben abgebracht. Vielleicht war er getürmt, hatte Angst gekriegt vor der Entdeckung. Oder hatte ein unglaublicher Zufall Werdin geholfen? Eine Bombe?
Irgendwann schlief er ein. Flacher Schlaf. Träume von Wehling, Paul Fahr, Fritz, ein Blonder mit langem Gesicht, der ihn anschrie: »Verräter! Verräter! Verräter!« Heydrich, vor ihm hatte er am meisten Angst gehabt. Die Erleichterung, als die blonde Bestie in Prag ermordet wurde. Wut über die grausame Rache der SS. Lidice, Frauen, Kinder, Männer, umgebracht für Heydrich. Etwas schüttelte ihn an der Schulter. Er versuchte es wegzudrücken, aber seine Hände gehorchten ihm nicht. Das Schütteln wurde stärker. Jemand klatschte ihm ins Gesicht. Hektisches Licht, es blendete. Werdin schlug die Augen auf und kniff sie gleich wieder zu. Er linste. Der Lichtkegel zitterte durch den Raum. Er erinnerte sich seiner Lage. Es waren mehrere Leute gekommen. Wo war Wehling? »Wachen Sie auf!«, schrie einer. Sonst nur Flüstern.
»Wer sind Sie?«, fragte er. Seine Stimme krächzte.
»Die Feuerwehr«, sagte der Mann mit der Taschenlampe. Ihr Schein fiel ihm ins Gesicht. Es schmerzte.
»Wo bin ich?«
»In der Nähe von Brieselang.«
Einer drehte ihn um. Er zog an seinen Händen. Werdin spürte sie nicht. Nur einen furchtbaren Schmerz in den Armen. Die Fesseln waren gelöst. Er legte sich wieder auf den Rücken, die Arme auf dem Körper. Einer leuchtete ihn ab, ein anderer zog ihn hoch. »Sie müssen hier raus«, sagte er. Sie trugen ihn durch die Tür ins Freie. Es war hell, blauer Himmel, Vögelzwitschern. Werdin erkannte eine Ummauerung, roter Backstein, schlampig verfugt, kreisrund, knapp kniehoch. Daneben lag eine schwarz gebrannte Gestalt auf dem Bauch, ein leichter Wind trieb Rauch zu Werdin, er hustete.
»Kennen Sie den Mann?«, fragte ein Feuerwehrmann Werdin. Er hatte ein Scharnier in der Hand. Er gab es Werdin, es war noch warm. Es trug eine Aufschrift: Landmaschinenfabrik York.
»Nein«, sagte Werdin.
»Er hat Sie gefesselt?«
»Ich kann ihn nicht erkennen.«
»Da gibt es nicht mehr viel zu erkennen, er ist verbrannt.«
»Was ist passiert? Eine Bombe?«
»Nein«, sagte der Feuerwehrmann. »Wir glauben, es war so: Er hat in die Jauchegrube pissen wollen, ein reinlicher Mensch offenbar. Er hat eine Luke geöffnet und sich eine Zigarette angezündet. Dann hat es wumm gemacht. Methan«, sagte der Feuerwehrmann stolz.
»Wenn Sie furzen, erzeugen Sie Methan. Kippen Sie Jauche in eine Grube, machen Sie einen Deckel drauf und warten Sie, bis es schön warm wird. Dann halten Sie ein Streichholz über die Grube. Eine ganz eigene Art, sich ins Jenseits zu befördern. Der Mann hat Sie gefesselt und sich dann in die Luft gesprengt. Ob mit Absicht, wer weiß?« Der Feuerwehrmann zog seinen Helm ab und strich sich durchs Haar. Dann setzte er den Helm wieder auf. »Sie haben Glück gehabt, wir waren auf dem Weg nach Berlin und haben den Feuerschein gesehen. Es war eine riesige Stichflamme.«
Viehkot hatte Werdin das Leben zurückgegeben. Sein Mörder lag verbrannt neben einer Jauchegrube. Schmerzhaft kehrte das Gefühl in seine Hände zurück. Er saß, mit dem Rücken an eine Wand gelehnt, und beobachtete seine Retter. Sie sahen zufrieden aus, rauchten und staunten. Vermutlich retteten sie lieber einen SS-Mann aus einem Kartoffelkeller, als zwischen Blindgängern Brände in zerbombten Straßenzügen zu löschen. Und was war schon eine verkohlte Leiche im Vergleich mit Bergen von verbrannten Körperteilen?
»Die Polizei muss ich ja nicht holen?«, sagte der Feuerwehrmann.
»Sie sind ja Polizist, gewissermaßen.«
Werdin nickte. Ihm war es recht, wenn die Sache nicht untersucht würde.
»Was machen wir mit der Leiche?«, fragte der Feuerwehrmann.
»Das überlassen Sie mir«, sagte Werdin. »Ich werde alles Nötige veranlassen.« Er war froh, dass der Feuerwehrmann nicht so pingelig
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