Der 21. Juli
paar Akten mitgenommen, als Begrüßungsgeschenk sozusagen und um zu zeigen, wie wichtig er ist. Es sind aber alle Akten da. In seiner Wohnung finden wir nichts. Ich tippe, er ist seit vorgestern nicht mehr hier gewesen, sonst hätte er die Pappe erneuert. Gestern hat es geschüttet. Aber Pappe hat er genug«, sagte Krause und zeigte auf einen Kartonstapel am Ende des Flurs. »Der Kamerad hat vorgesorgt.«
Sie gingen ziellos durch die zwei Räume und die Küche und guckten noch einmal in Schubladen, auf Tischen, unter Bett und Matratze nach. Sie klopften die Wände ab, um Hohlräume aufzuspüren. Es war wie verhext, der Mann war verschwunden und hatte keine Spur hinterlassen. Unter den Toten der letzten Angriffe war er auch nicht registriert. »In Luft aufgelöst«, sagte Krause. »Wir lassen die Krankenhäuser abklappern, vielleicht liegt er unter falschem Namen in einem weißen Bett und schläft sich mal richtig aus. Aber ich glaube es nicht, das hätten die uns gemeldet, wenn sie die Blutgruppentätowierung entdeckt hätten.« Jeder SS-Mann trug unter der Achselhöhle die Tätowierung, Krause hatte seine als Initiationsritual empfunden. Wer die Gravur trug, gehörte zum Orden. »Und Sie, Gottlieb, beschäftigen sich jetzt mit nichts anderem, als Ihren Chef zu finden. Wir legen nämlich immer noch Wert auf seine Dienste.« Krause grinste, dann befahl er, die Suche in Werdins Wohnung abzubrechen.
Er nahm Gottlieb zur Seite und erklärte ihm, dass sie Werdin auf keinen Fall verhaften würden, wenn sie ihn fänden. Gottlieb sollte alles vergessen, was er von Krause über Werdin erfahren hatte. »Ich befehle Ihnen das im Auftrag von Schellenberg. Haben Sie das verstanden?«
»Jawohl, Standartenführer!«
Er hörte das Brummen der Bomber in der Ferne. Ein neuer Angriff auf die Hauptstadt. Werdin wusste nicht, ob es die Engländer oder Amerikaner waren, ob es Nacht oder Tag war. Er fühlte seine Hände nicht mehr. Die Blase drückte. »Ich muss mal pinkeln«, sagte er und zwang seine Stimme zur Ruhe.
»Dann pinkle«, sagte Wehling trocken.
Werdin wehrte sich gegen die Demütigung und musste sie doch ertragen. Es war eklig, als Haut und Hose nass wurden. Der Uringestank steigerte seine Verzweiflung. Wehling hatte ihn ein zweites Mal überrascht.
»Du bist ein Schwein«, sagte Werdin.
Wehling gackerte fröhlich. »Ich habe mir nicht in die Hose gemacht«, entgegnete er. »Aber Schluss mit den Spielchen: Wie hast du dich entschieden, Genosse Werdin?«
»Leck mich am Arsch«, sagte Werdin.
»Jetzt nicht mehr«, sagte Wehling und gackerte. Er stand auf und trat Werdin mit der Schuhspitze in den Bauch.
Werdin schnappte nach Luft und krümmte sich.
»Du hast jetzt ein paar Minuten Zeit. Ich geh mal pinkeln, ich mach mir ja schließlich nicht in die Hose, und rauche eine. Wenn ich zurückkomme, bringen wir beide die Sache zu Ende, so oder so. Klar?« Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern stieß die Tür auf. Das Licht schmerzte in Werdins Augen. Am anderen Ende des Raums erkannte er Kästen, wie sie zum Lagern von Kartoffeln benutzt wurden.
Wehling drückte von außen die Tür zu. Seine Schritte entfernten sich. Werdin war überzeugt, er würde sterben. Irgendetwas in ihm wehrte sich gegen die Möglichkeit, sich den Tod zu erleichtern. Er wollte es Wehling nicht einfach machen und wusste doch, so würde er es sich selbst am schwersten machen.
Er wollte möglichst lang leben und hoffte auf eine kleine Chance, Wehling zu überwältigen. Wie konnte er ihn veranlassen, seine Fesseln zu lösen? Ihn aus diesem Keller herauszubringen? Womit konnte er ihn ködern? Seit er sich entschieden hatte, die Nazis durch Spionage für die Sowjets zu bekämpfen, ahnte er, es würde nicht gut gehen. Aber er wäre nie darauf gekommen, dass ihn ein Agent aus Moskau töten würde. Er hatte geglaubt, eines Tages würde die Gestapo ihn auffliegen lassen. Weil ein Genosse ihn unter der Folter verriet. Weil die Funksprüche entschlüsselt wurden. Weil er sich beim Fotografieren erwischen ließ. Weil er bei Fritz im Wohnzimmer saß, wenn die Gestapo anrückte. Es war anders gekommen. Warum konnte er nicht akzeptieren, dass es zu Ende war? Warum verbiss er sich in sein Leben? Wegen Irma? Durch sein Hirn raste die Szene aus dem Café Kranzler, als sie sich an der Tür umdrehte. Dieser Blick. Hell, klar und untergründig. Das Gespräch mit Mellenscheidt, Margarete erst misstrauisch. Irma. Zwischen manchen Menschen brauchte es keine
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