Der 21. Juli
fühlte Übelkeit aufsteigen. Er musste sich setzen, seine Hände begannen zu zittern, unmerklich für die anderen, für ihn Zeichen der Angst. Müller hatte ihn an Michael erinnert und an die beiden Fallschirmagenten, die das NKWD geschickt hatte, um Werdin zu verhören und zu töten. Wenn Werdin kein Verräter wäre, hätte er Moskau längst von der neuen Waffe berichtet. Es war ja nicht so, dass es in Deutschland keine Funkgeräte mehr gab. Ahnung lässt der Hoffnung eine Chance, Gewissheit tötet sie. Grujewitsch konnte nur beten, auch wenn das für einen Kommunisten eine ungewöhnliche Betätigung war, dass Berija ihn nicht für dieses Desaster verantwortlich machte. Alles war schief gegangen.
Müller saß da und lächelte überlegen. Erst jetzt begann Grujewitsch den Mann aus Deutschland zu hassen. Er würde es sich nicht anmerken lassen.
»Und mehr wissen Sie nicht über die Bombe?«, fragte Grujewitsch endlich.
»Ich hatte mit dem Projekt nichts zu tun. Ich weiß nur, es geht da um einen Uranverein. Himmler interessiert sich schon länger für die Geschichte, aber erst seit dem Attentat hat er freie Hand. Ich kann mir vorstellen, dass er alle Hebel in Bewegung setzt, um diese Uranbombe zu bauen. Die Uranbombe wäre seine letzte Chance.« Er sprach das Wort mit ungläubiger Distanz aus, es klang wie Hokuspokus. »Uranbombe, was immer das sein mag.«
Grujewitsch blickte zur Seite und sah, dass der Protokollant mitschrieb. Vielleicht war es Wichtigtuerei von Müller, vielleicht klammerten sich die Deutschen an einen Blödsinn, um die Illusion aufrechtzuerhalten, sie würden den Krieg doch nicht verlieren. Vielleicht aber wuchs in Deutschland eine tödliche Gefahr für die Sowjetunion heran.
Grujewitsch spürte, Müller sagte die Wahrheit. Um ihn zu prüfen, fragte Grujewitsch nach Details im Reichssicherheitshauptamt. So konnte er Michaels Auskünfte mit Müllers Angaben vergleichen. Michael alias Werdin hatte bis zu seinem Verrat zuverlässig berichtet, und so konnte er nun helfen, Müller zu testen. Werdins letzter Dienst für das NKWD. Er sollte nicht mit unserer Dankbarkeit rechnen, dachte Grujewitsch und wunderte sich, dass sein Humor sich zaghaft zurückmeldete.
Er unterbrach das Verhör, es sei nun Mittagszeit, Müller solle es sich schmecken lassen. Und wenn er sonst Wünsche habe, er müsse es nur sagen. Müller fühlte sich offenbar in seiner Wichtigkeit bestätigt, jedenfalls blickte Stolz aus seinen Augen.
Statt zu Mittag zu essen, bat Grujewitsch seinen Freund Iwanow um einen Spaziergang. Sie hatten es sich angewöhnt, schwierige Fragen unter freiem Himmel zu besprechen. Iwanow riet Grujewitsch, die Uransache mit Wissenschaftlern zu erörtern. Vielleicht war es ja Unsinn, und dann wäre es ein Fehler, den Genossen Berija mit dieser dubiosen Geschichte zu behelligen. Wenn es aber ernst war, dann musste die Sowjetunion handeln, so schnell wie möglich. Grujewitsch hatte einen sechsten Sinn für Gefahren. Er hatte ihn gerettet beim Überfall der ukrainischen Partisanen, der seinem Leben eine neue Richtung gegeben hatte. Jetzt hatte er wieder dieses Gefühl, er roch die Gefahr.
Iwanow kannte einen Physiker, der sich als Zuträger und Berater des NKWD bewährt hatte. Anatoli Kusnezow hatte die Säuberungen Ende der Dreißigerjahre überlebt, er half sogar mit, die sowjetischen Wissenschaften zu befreien von Einflüssen des Feindes.
Der Glatzkopf schaute leblos durch seine runden Brillengläser, als Grujewitsch ihm in der Akademie der Wissenschaften seine dürftigen Informationen über das Uranprojekt der Deutschen vortrug.
»Genosse Grujewitsch, das ist nicht viel, was Sie mir zu sagen haben. Und doch will ich versuchen, Ihnen eine Antwort zu geben.« Er stopfte sich ruhig eine Pfeife, die Glut leuchtete auf, als er zog. Grujewitsch roch den parfümierten Tabak, es war kein Machorka. Die Sowjetmacht behandelte ihre Wissenschaftler gut. »Otto Hahn und Fritz Straßmann haben kurz vor dem Krieg entdeckt, dass Atomkerne gespalten werden können. Ich darf Ihnen versichern, auch die sowjetische Wissenschaft ist auf diesem Weg weit gekommen. Die moderne Physik bestätigt alle Lehren von Marx, Lenin und Stalin. Haben Sie einmal Lenins große Schrift über Materialismus und Empiriokritizismus gelesen?«
Grujewitsch erinnerte sich, dass er vor vielen Jahren auf der Parteischule einige Auszüge aus dieser schwer verdaulichen Arbeit studieren musste. Er nickte.
»Dann wissen Sie ja, am Ende werden die
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