Der 21. Juli
rettete sich in Formeln. Grujewitsch war unsicher, ob Berija Stalin von der Gefahr berichten würde. Überbringer schlechter Nachrichten hatten es nicht leicht. Die Nachricht, dass die Deutschen so kurz vor dem großen Sieg der Sowjetunion noch einen Zauberprügel aus dem Sack ziehen könnten, war sogar mehr als schlecht. Doch Grujewitsch freute sich, dass Berija nicht auf das Debakel in Berlin zurückkam. Er hatte Angst zu berichten, dass Werdin offensichtlich übergelaufen war. Und wo war Fritz? Auch beim Feind oder gefangen? Ob es die Bombe nun gab oder nicht, einen Zweck hatte sie erfüllt: Berija war abgelenkt. Die Gefahr, dass Grujewitsch sich für die Katastrophe in Berlin rechtfertigen musste, verminderte sich mit jedem Tag und wurde hoffentlich bald begraben unter der Flut neuer Informationen. Und vielleicht arbeiteten Wehling und Hauenschildt doch noch in Deutschland, versuchten sie, das Unmögliche möglich zu machen? Grujewitsch schöpfte Hoffnung, seine Lage war doch nicht ausweglos. Er musste nur eine Weile durchhalten und Glück haben.
Berija brach das Schweigen: »Boris Michailowitsch, Sie leisten gute Arbeit. Manchmal aber verlässt Sie das Vertrauen. Es ist gut, wenn Sie in solchen Momenten zu mir kommen. Jetzt gehen Sie zurück an Ihren Schreibtisch. Arbeiten Sie für unseren Sieg.« Berija lächelte, indem er die Mundwinkel nach außen zog. »Und von dieser Geschichte in Berlin berichten Sie mir ein anderes Mal.«
»Jawohl, Genosse Berija«, presste Grujewitsch heraus. Seine Hoffnung war zerschlagen.
Sie machte sich Vorwürfe. Warum hatte sie sich eingelassen auf das Treffen? Zacher hatte angerufen, und sie verspürte als ersten Impuls, dass sie ihn nicht enttäuschen durfte. Erst später ging ihr auf, sie würde ihn so oder so enttäuschen. Zacher warb um sie, das war ihr nicht entgangen. Er tat dies auf eine unaufdringliche, sympathische Art, es war schwer, sich ihm zu entziehen. Sie erinnerte sich gern an die Zugfahrt mit ihm, als er langsam auftaute und sich der stolze Offizier in einen offenen und witzigen jungen Mann verwandelte, der noch dazu gut aussah. Irma bewunderte Zacher auch für seinen Mut. Sie ahnte, welch furchtbarer Belastung Jagdflieger ausgesetzt waren. Tag für Tag kämpften sie gegen einen mächtigen Feind. Da oben war man einsam. Zacher zwang sie, sich zu entscheiden, genauer: sich einzugestehen, was ihr Herz längst entschieden hatte. Dafür war sie ihm dankbar, auch wenn sie Angst hatte, sich den Folgen zu stellen.
Was war es gewesen? Der Austausch ihrer Blicke im Café Kranzler, kurz und doch lang genug. Ist das alles? Genügt es, einen Mann anzusehen und sich gleich zu verlieben? War das nicht dummes Zeug aus Liebesromanen der billigen Sorte? Als Werdin vor einigen Tagen aufgetaucht war, verdreckt, gequält und voller Schrecken, war es ihr fast selbstverständlich erschienen, dass er in seiner Not zu ihr gekommen war. Nicht, weil er sie vor der Gestapo geschützt hatte, eine im Rückblick eher harmlose Episode. Sondern weil er offenbar so fühlte wie sie. Liebe ist unerklärlich, dachte Irma und erschrak. Zum ersten Mal hatte sie an Liebe gedacht. Das hieß, sich auf einen Mann einzulassen, der gefährlich lebte. Sie und ihre Eltern konnte das in Teufels Küche bringen. Und doch war es unausweichlich.
Aber nun musste sie einen anderen enttäuschen, einen Mann, der es nicht verdient hatte und dessen Werbung sie sich womöglich nicht entzogen hätte, hätte der Zufall sie im Café Kranzler nicht mit Werdin Zusammentreffen lassen. Der nächste Akt am selben Ort.
Dass Werdin nach Süddeutschland versetzt worden war, machte ihren Kopf freier, auch wenn die Gedanken an ihn nicht auszulöschen waren. Heute Morgen hatte sie einen Brief von Werdin erhalten. Er schrieb sachlich, berichtete von der schönen Landschaft, in die es ihn verschlagen hatte. Nichts über seine Arbeit, nichts über Pläne, nichts über Gefühle. Und doch empfand sie die wenigen Zeilen als Liebesbrief. Sonst hätte er nicht geschrieben. Sie nahm nun teil an seinem Leben. Es mochte dauern, bis er sich ganz öffnete. Sie hatte Zeit. Nun da sie zusammengefunden hatten, ohne sich ihre Liebe zu gestehen, würde sich alles ergeben.
Zacher saß an dem Platz, an dem Werdin gesessen hatte. Er lachte vor Freude, als er sie erkannte. Als er aufstand, um sie zu begrüßen, zeigte er gar nicht mehr die Steifheit, mit der sie ihn im Zug kennen gelernt hatte. Seine Freude steckte sie an, doch nur um gleich in
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