Der 21. Juli
die Fluten warfen. Sein Vater stammte aus Potsdam und war als Infanterieoffizier in den Süden versetzt worden. Bald hatte er sich an das Land und die Schwaben gewöhnt, soweit man sich als Preuße an die Schwaben gewöhnen konnte. Seine Eltern erzogen Zacher und seine jüngere Schwester Henriette streng. Aber sie waren gerecht. Henriette ging auf ein Mädchengymnasium und machte das Abitur. Ihre Berufswünsche zerschlugen sich in dem Augenblick, als ein Leutnant aus Vaters Regiment um ihre Hand anhielt. Zacher studierte nach dem Abitur zuerst in Bonn, dann in Königsberg, »wegen Kant«. Nichts wünschte er sich mehr, als nach Kriegsende in Königsberg Dozent zu werden. Irma spürte, er hatte davon geträumt, sie käme mit ihm nach Ostpreußen. Eine Zeit lang hätte sie es vielleicht nicht ausgeschlossen.
Das Café war voll, Menschen auf der Suche nach freien Plätzen drängten sich durch die Glücklichen, die saßen, kartenfreien Kuchen aßen und Ersatzkaffee der besseren Sorte tranken. Der Geruch schlechten Tabaks durchzog den Saal. Überall Kriegsgesichter, grau, abgekämpft, stumpf. Irma hatte sich eingebildet, in den Tagen nach dem Putsch mehr fröhliche Menschen gesehen zu haben, fast wie vor dem Krieg. Aber längst hatte der Alltag die Hoffnung zerstört. Die Feinde bestanden auf der bedingungslosen Kapitulation, die sachlicher gewordenen Wehrmachtberichte gestanden die Überlegenheit von Russen, Amerikanern und Engländern ein. Die Fronten hielten einigermaßen, es ging mal rückwärts, mal nach vorne, aber es würde nicht mehr lange dauern. Wann stand die Rote Armee vor Berlin? Was würden die Russen mit den Deutschen tun, was mit den Frauen? Man hörte von Massenvergewaltigungen und Morden, von Plünderungen und Verschleppungen. In Ostpreußen, wo Zacher nach dem Krieg studieren wollte, schien Panik zu herrschen. Wenn die Ostfront zusammenbrechen sollte, würde das Inferno über die Menschen kommen. Irma fühlte die Angst, sie war nicht mehr weit von ihr entfernt.
Zacher verschwieg nicht, dass es eines Wunders bedurfte, um die Katastrophe abzuwenden. »Wir werden wohl die Rechnung bezahlen müssen für das, was unsere schwarzen Kameraden getrieben haben«, sagte er bitter. »Nein, das ist keine Anspielung auf Ihren Bekannten«, fügte er hinzu. Er sprach von einem Bekannten, um nicht in einen Begriff fassen zu müssen, was er verstanden hatte. Bekannte liebte man nicht, man schätzte sie oder auch nicht.
»Erinnern Sie sich an unser Gespräch im Zug?«, fragte Irma.
Zacher nickte.
»Da haben Sie erzählt von neuen Waffen. Es klang ganz hoffnungsfroh.«
»Offen gesagt, weiß ich nicht, ob wir uns einen Sieg wünschen sollen. Es ist so viel Furchtbares geschehen. Aber die Rache der anderen können wir uns auch nicht wünschen. Selbst wenn manche sagen, es wäre nur folgerichtig, Deutschland würde zerstört, gespalten, in einen Agrarstaat zurückgezwungen. Niemand, der eine Ahnung hat von den Ungeheuerlichkeiten, die im Osten geschehen sind, kann sich dieser Einsicht widersetzen. Warum sollen die Alliierten sich die Mühe machen, fein säuberlich zwischen guten und schlechten Deutschen zu unterscheiden? Und gibt es gute Deutsche außer denen, die gegen Hitler gekämpft haben? Hat sich die braune Regierung nicht im Jubel suhlen können?«
»Sie haben gewiss Recht, Herr von Zacher. Aber kein Volk lässt sich freiwillig vernichten. Nach dem Krieg müssen wir die Mörder bestrafen und auch jene, die den Krieg mit vorbereitet haben, das war ja nicht nur der Führer. Haben Sie heute keine Hoffnung mehr? Irgendein Kompromiss?«
Zacher hatte sich noch nie außerhalb seiner Familie so offen geäußert. Er schaute sich vorsichtig um, aber niemand im Café schien ihnen zuzuhören. Unter Hitler konnten einen solche Zweifel den Kopf kosten, das Mindeste war Gefängnis oder KZ. Er wusste nicht, was die neue Regierung als Wehrkraftzersetzung begriff. Viele sagten, es gehe längst nicht mehr so streng zu. Seit die Gestapo im Sicherheitsdienst aufgegangen sei, habe auch die Spitzelei nachgelassen. Und doch war Krieg, da hatte es die Wahrheit schwer.
»Wir sollten unser Gespräch besser bei Ihnen zu Hause fortsetzen. Ich werde demnächst anrufen, vielleicht finden Ihre Eltern ja Zeit.«
»Natürlich«, sagte Irma. »Kommen Sie nur. Meine Eltern werden sich freuen, mal mit jemand Vernünftigem zu sprechen.«
Irma freute sich, Zacher wollte die Beziehung zu ihr und ihrer Familie nicht abbrechen. Viele Männer hätten
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