Der 21. Juli
ziehen. Er würde auch den Abwurf der Bombe auf eine Stadt nicht mittragen und trotzdem Kanzler ohne Macht bleiben. Um das Schlimmste zu verhüten.
»Werden Sie es schaffen?«
»Ja«, sagte Diebner. »Im April oder Mai werden wir elf oder zwölf Bomben haben, wenn wir nicht behindert werden. Hoffen wir, dass wir sie nicht benutzen müssen, außer für eine Demonstration. Und vor allem müssen wir hoffen, dass es Deutschland dann noch gibt.«
»Warum so viele Bomben, elf oder zwölf?«
»Es ist egal, ob man eine baut oder mehrere, wenn man die technischen Schwierigkeiten gelöst hat. Eine Einzige würde uns wenig nutzen. Man zerstört mit ihr die Walachei, alle sind beeindruckt, und wir verlieren den Krieg. Außerdem müssen wir damit rechnen, dass Zünder versagen, Trägerflugzeuge abgeschossen werden und so weiter. Eine einzige Bombe, das wäre russisches Roulette. Jemand könnte natürlich einwenden, wir spielten die ganze Zeit schon Roulette. Aber das stimmt nicht. Wir machen einen Wettlauf mit den Feinden. Wir laufen um unser Leben. Ob es reicht, werden wir sehen.«
***
Auch Wochen nach seiner Versetzung nach Haigerloch rätselte Werdin über den Grund dafür. Er verstand nichts von dem, was die Wissenschaftler taten. Sabotage hatte es bisher nicht gegeben, und Experte auf diesem Gebiet war Werdin nicht. Er erklärte es sich mit dem Chaos im SD. Schellenberg brauchte einen zuverlässigen Mann im Uranverein, er musste wohl seinem Reichsführer zeigen, mit welchem Ernst auch er Himmlers Lieblingsprojekt unterstützte.
Er hatte Irma geschrieben. Sie hatte geantwortet. Sie berichtete von den letzten Angriffen auf Berlin, er hatte Angst um sie. Und doch war es ein heiterer Brief, in dem sie sich über Nöte des Alltags lustig machte. Sie bat ihn, bald zu antworten. Noch lieber sei es ihr, er würde sie besuchen. Aber im Krieg könne man glücklich sein, wenn die Menschen, die einem nahe stünden, unverletzt davonkämen. Ihr Vater habe vom württembergischen Wein geschwärmt, sie hoffe, er werde nicht zum Trinker. Aber er dürfe ein, zwei Flaschen mitbringen, wenn er sie das nächste Mal besuchte. »Komm bald«, beendete sie ihren Brief. Er empfand es als eine Liebeserklärung. Nichts würde er lieber tun.
Jede Woche schickte Werdin einen nichts sagenden Bericht nach Berlin. Er quälte sich mit der Formulierung. Was sollte er melden, wenn nichts passierte? Jedenfalls nichts, was er verstand. Berlin schien zufrieden, er erhielt nie eine Antwort oder einen Befehl, und niemand fragte ihn etwas. Bald kam er nicht mehr jeden Tag in die Anlage. Er nutzte seinen Dienstwagen und das großzügige Benzinkontingent, das der SD ihm bewilligt hatte, zu kleinen Reisen. Wegen der Kontrollen trug er seine Dienstuniform. Er besuchte Ulm, das gelitten hatte unter den Bombenangriffen auf seine Industrien. Stuttgart war noch stärker heimgesucht worden. Tübingen hatte gerade in den letzten Tagen furchtbare Schläge ertragen müssen. Womöglich vermuteten die Westalliierten das Wunderwaffenprojekt in der Universitätsstadt.
Zu SS-Kameraden in der Gegend pflegte er keinen Kontakt.
Er hatte in einer Kneipe ein paar Schwarzuniformierte erlebt, die nach ein paar Gläsern Wein in derbstem Schwäbisch über Juden und Kommunisten herzogen, denen man es nach dem Endsieg erst richtig zeigen werde, wer die Herrenrasse sei. Als hätte sich seit dem 20. Juli nichts geändert.
In diesem Winter war die Kohle knapp. Er hatte eine Kammer in Haigerloch gemietet. Seine Vermieterin, Erna Tauber, stöhnte, selbst gegen Marken gebe es vieles nicht mehr. Ständig sei man gezwungen zu improvisieren. »Wann ist dieser verdammte Krieg endlich vorbei! Die sollen Schluss machen!«, sagte sie einmal zornig. Dann fiel ihr Blick auf Werdins SD-Uniform, und er erkannte die Angst in ihren Augen. Er sagte, sie habe Recht, das beruhigte sie, und sie schenkte ihm ein Lächeln. Seitdem hatte sie ihn als Ersatzsohn adoptiert. Ihr Mann lag in einem Wehrmachtlazarett im Osten, ihr Sohn kämpfte in Italien gegen die Alliierten. Werdin brachte ihr hin und wieder Wurst oder Butter aus der gut versorgten Kantine mit.
Wenn ein Brief von Irma eingetroffen war, brachte Erna Tauber ihn Werdin mit strahlendem Gesicht. Sie nahm an seinem Glück teil, als wäre es ihres. Sie borgte sich gewissermaßen Freude von ihm, weil sie wenig Gründe für Freude hatte. Obwohl sie viel jünger war, erinnerte sie ihn an seine Mutter, die sich in Fürstenberg mit der Alltagsnot und den
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