Der 21. Juli
fand ein paar Wassergläser und goss alle halb voll. Einer nach dem anderen nahm ein Glas, Zacher als Letzter. Sie tranken schweigend. Zacher fühlte sich hohl, er spürte nichts in sich außer einer Erschöpfung, die ihm die Kraft raubte, aufzustehen und sich in die Kaserne fahren zu lassen. In einem anderen Zelt wurde ein Radio eingeschaltet. Fanfarenklänge, Beethoven. Pauken. Ein Sprecher mit markiger Stimme kündigte eine Regierungserklärung an, Reichskanzler Goerdeler würde sie vortragen.
Goerdelers kräftige Stimme. Gott habe den Deutschen mit der Uranbombe eine furchtbare Waffe in die Hand gegeben. Deutsche Wissenschaftler hätten einmal mehr ihre führende Stellung in der Welt bewiesen. Die Uranbombe übertreffe in ihrer Wirkung alle Waffen, die die Menschheit bisher erfunden habe. Sie sei schrecklicher als jede Vernichtung, die ein Terrorangriff von tausenden von Bombern auf eine Stadt anrichten könne. Die Bombe habe hunderttausende getötet und Minsk in eine Wüste verwandelt. Glücklicherweise besäßen die Feinde des Deutschen Reiches nichts Vergleichbares.
Die Reichsregierung habe zu ihrem großen Bedauern einen Angriff mit dieser Waffe auf die russische Stadt Minsk befohlen, da die Feinde alle Friedensappelle zurückgewiesen hätten. Deutschlands Antwort darauf sei das Unternehmen Götterdämmerung . Unzweifelhaft habe Hitler den Krieg vom Zaum gebrochen, aber ohne das Schanddiktat von Versailles hätte er nie stattfinden können. Der Krieg habe sich längst in einen Verteidigungskampf gegen den Bolschewismus verwandelt. Deutschland schütze das christliche Abendland gegen die heidnischen Horden und den Terror der russischen Geheimpolizei.
Goerdelers Stimme bekam einen drohenden Unterton: »Wir bieten unseren Feinden den sofortigen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen an. Wir verlangen nur, dass sich alle fremden Truppen vom Territorium des Deutschen Reichs zurückziehen. Wir sind bereit, über alle Forderungen zu sprechen. Aber das Deutsche Reich wird kein zweites Schanddiktat hinnehmen. Die deutsche Luftwaffe ist in der Lage, unseren Feinden in den nächsten Tagen vernichtende Schläge beizubringen. Minsk war nur ein Signal. Was in den Arsenalen Deutschlands liegt, kann die Feindstaaten restlos vernichten. Unsere Luftwaffe kann auch die USA erreichen und alle großen Städte dort zerstören. Wir streben dies nicht an, werden aber nicht zögern, wenn die Vereinigten Staaten von Nordamerika, Großbritannien und Sowjetrussland nicht zum Frieden bereit sind. Wir setzen auf die Vernunft.«
Goerdeler setzte nicht nur auf die Vernunft, sondern auch ein Ultimatum. Es war knapp bemessen. Die Feinde hatten bis achtzehn Uhr deutscher Zeit Gelegenheit, einem Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zuzustimmen.
Zacher hörte es und begriff erst nicht. Er hatte einige hunderttausend Russen getötet, fast alle Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder. Damit Deutschland nicht kapitulieren musste. Das war kein Krieg mehr, es war Massenmord. Aber was würde uns geschehen nach einer Kapitulation? Was würden die Russen mit unseren Frauen und Kindern anstellen? Gedanken gingen ihm durch den Kopf, er fühlte nichts. Ihn stieß der Triumph in Goerdelers Stimme ab. Und wenn irgendwo anders wirklich umgebaute He 111 mit Bomben im Schlepptau auf den Einsatz warteten? Vielleicht hatte Milch doch noch einen Langstreckenbomber für die USA bauen lassen, die Pläne dazu gab es ja längst. Er saß mit seinen Leuten im Zelt und wusste nicht, wie lange sie geschwiegen hatten.
Jemand klopfte an die Tür. Werdin schlug die Augen auf und tastete nach dem Schalter der Leselampe, die Irma ihm gestern Abend gebracht hatte. Sie hatten sich geküsst, dann entwand sich Irma seiner Umarmung, strahlte ihn an und verschwand. Er hörte ihre Schritte auf der Treppe ins Erdgeschoss. Immerhin hatte er es bis in ihren Keller geschafft. Er lachte leise über sich selbst und war bald eingeschlafen. Gustav Mellenscheidt war an der Tür. Er rief irgendetwas, aufgeregt, so kannte Werdin ihn nicht. Werdin sprang aus dem Bett und öffnete die Tür.
»Minsk!«, sagte Mellenscheidt. »Sie haben eine Bombe auf Minsk geworfen! Ultimatum! Achtzehn Uhr!«
Werdin schaute ihn verständnislos an. Dann dämmert es ihm. Es war die Bombe, die Diebner in Haigerloch bauen ließ. Es hatte funktioniert.
Er fragte Mellenscheidt, was die Berichte sonst sagten. Es musste ungeheuer viele Tote gegeben haben. Die BBC habe gemeldet, Minsk existiere nicht mehr.
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