Der 21. Juli
Platz, stülpte sich die bereitliegenden Ohrenschützer über, zog seine Walther, zielte kurz beidhändig und schoss auf die Scheibe, deren Umrisse dem menschlichen Körper nachgebildet waren. Früher hatten sie diese ekligen Judenkarikaturen aus dem Stürmer auf die Schießscheiben geklebt. Krause schoss schlecht, traf die Zehn nicht ein einziges Mal. Er lud gerade sein Magazin nach, als ihm jemand von hinten auf die Schulter tippte. Krause drehte sich um und erkannte Obergruppenführer Otto Westenbühler. Krause zog sich die Ohrenschützer vom Kopf und grüßte militärisch.
Westenbühler winkte ab. »Wir sind hier unter Sportskameraden«, sagte er und klopfte Krause auf die Schulter. »Da sind ja ein paar Fahrkarten dabei. Wohl kein Zielwasser getrunken heute.«
»Ja, Obergruppenführer.«
Krause hatte Westenbühler bei verschiedenen Anlässen getroffen, jedes Jahr etwa bei der SS-Feier am 20. April, dem Geburtstag des Führers. Wenn man sich auf der Straße sah, grüßte man sich freundlich. Westenbühler leitete das SS-Hauptamt, das sich mit Wirtschaft und Verwaltung beschäftigte, die SS-eigenen Unternehmen führte und dafür sorgte, dass der Orden reich und mächtig blieb. Er kehrte nie seinen hohen Dienstrang heraus und war schon deshalb beliebt.
»Na ja, achtmal die Zehn in Serie, das schaffte sowieso nur dieser Werdin«, sagte Westenbühler. Und nach einer Pause: »Ob der noch lebt?«
Stimmt, dachte Krause, der Werdin schaffte achtmal die Zehn in Serie. Und dann ist er abgehauen.
Krause schaute etwas zu lange auf seine Uhr, gab einen wichtigen Termin vor, den er nicht versäumen dürfe, und eilte zurück in sein Dienstzimmer. Den Namen »Werdin« hatte er heute schon mal gelesen. Er durchsuchte die Papierstapel auf seinem Schreibtisch. Es dauerte eine Weile, bis er das Schreiben fand. Es war unter den Meldungen des SD-Residenten in der deutschen Botschaft in Mexiko City. Sie kamen jede Woche mit der diplomatischen Post. Krause ärgerte sich schon seit Jahren darüber, wie lange die Idioten im Außenministerium brauchten, um die Sendungen an den SD die paar hundert Meter weiterzubefördern. Das waren Dummköpfe oder Saboteure oder beides. In der Meldung stand, aus sicherer Quelle habe man erfahren, dass der ehemalige SS-Sturmbannführer Knut Werdin alias Peter Vandenbroke ins CIA-Hauptquartier in Washington gebracht worden sei. Die Quelle vermute, Werdin werde für eine Operation gegen Deutschland eingesetzt. Mehr habe die Quelle nicht gewusst. »Rückfragen sind zwecklos, Quelle ist erschöpft und wurde wegen der Gefahr des Verrats liquidiert.«
Es ist ein harter Kampf, dachte Krause. Wieder war ein Informant ausgeschaltet worden, der zu viel knappe Devisen des Deutschen Reichs für zu wenig Informationen gekostet hatte. Wenn es um übergelaufene SS-Leute ging, waren die Auslandsagenten besonders vorsichtig. Vor ein paar Jahren hatte ein V-Mann in Australien einen desertierten Brigadeführer erst erkannt und gegen viel Geld verraten, um den Mann dann zu erpressen. Der Brigadeführer tauchte gleich wieder ab und lebte seitdem mit neuer Identität irgendwo, wo ihn der SD kaum finden dürfte. Geldgierige Informanten waren eine Gefahr, Geldgier war eine Sucht, die die von ihr Befallenen oft unkontrollierbar machte. Besser, man liquidierte V-Leute, als sich der Gefahr des Verrats auszusetzen. Es gab nicht viele solche Fälle.
Krause öffnete die Tür zum Vorzimmer. »Verbinden Sie mich mit Reitberg«, rief er seiner stets aufgeregten Sekretärin mit der dicken Hornbrille zu.
Kaum saß er hinter seinem Schreibtisch, klingelte das Telefon. »Was ist los, Werner?«, fragte Reitberg.
»Hast du einen Augenblick Zeit?«, fragte Krause.
»Ja«, sagte Reitberg.
»Ich komme gleich mal rüber.«
Krause mochte den immer ruhigen Reitberg, obwohl der einer in der SS verhassten Tätigkeit nachging. Günther Reitberg war Abteilungsleiter im Hauptamt SS-Gericht, »der SS in der SS«, wie manche Kameraden sagten. Das Hauptamt saß in München und hatte eine Zweigniederlassung in der Prinz-Albrecht-Straße. Es machte kurzen Prozess mit Säufern, Dieben und sonstigen Kriminellen in den eigenen Reihen. Geringste Dienstvergehen genügten, um im Wiederholungsfall in einem Straflager zu landen, das allein der SS-Gerichtsbarkeit unterstand. Und wer die SS verriet, wurde verfolgt bis an sein meist widernatürliches Lebensende.
»Erinnerst du dich an den ehemaligen Sturmbannführer Knut Werdin?«, fragte Krause, als er in
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