Der 21. Juli
Staatspolizei arbeitete auf Hochtouren, geleitet von einem der erfahrensten Kriminalisten des Deutschen Reichs. Heydrich hatte Heinrich Müller entdeckt und ihn, obwohl er kein altgedienter Nazi war, auf die Karriereleiter geschoben. Heydrich hatte ein Händchen für anpassungsfähige Profis.
Müller gehörte nicht zu den Glitzergestalten des Tausendjährigen Reichs, er hatte nicht die Brillanz eines Schellenberg, nicht die kalte Intelligenz eines Reinhard Heydrich, nicht das Charisma und die Wendigkeit von »Wölfchen« alias Karl Wolff, dem schicken Leiter des Persönlichen Stabs des Reichsführers. Aber was Müller begann, brachte er zu Ende. Er lebte hinter seinem Schreibtisch wie eine Spinne, er wartete geduldig, bis seine Opfer sich im ausgebreiteten Netz verfingen. Wen er in seinen Krallen hatte, kam nicht mehr davon. Müller verkörperte Wirksamkeit wie kein anderer im Labyrinth von Polizei und Geheimdiensten. Daran dachte Krause, wenn ihm die bayerische Behäbigkeit auf die Nerven ging.
»Amerikaner und Engländer sind gelandet. Harte Kämpfe, hohe Verluste für die Feinde. Nun fällt die Entscheidung. Für uns heißt das, die Verräter noch unerbittlicher zu bekämpfen.« Krause hielt sich einiges zugute auf seine literarische Bildung, er liebte Heinrich George und den inzwischen verpönten Ernst Jünger, besonders dessen Erzählung Auf den Marmorklippen. Umso mehr ekelte er sich vor Müllers Dorfsprache, sie beleidigte seine Ohren und sein Sprachempfinden. Krause konnte fluchen wie ein Droschkenkutscher, aber das war etwas anderes als das gutturale Bellen des Gruppenführers aus Bayern.
»Ah, der Standartenführer Krause humpelt. Erste Kriegsverletzung, Krause?«, fragte Müller spöttisch, als Krause nach Ende der Besprechung das Dienstzimmer seines Chefs verließ. »Bleiben’s mal hier!«, befahl Müller. Müller hatte sich wieder hinter seinen Schreibtisch gesetzt. Er wartete, bis alle das Zimmer verlassen hatten.
»Bombensplitter?«, fragte Müller.
»Ein Glassplitter, Gruppenführer.«
»Hat’s die Fenster zerschlagen heute Nacht.« Müller fragte nicht, er stellte fest. Krause war froh, nicht genauer Auskunft geben zu müssen über die nicht ganz so heroische Verletzung seines Zehs.
»Ich habe Ihren Bericht gelesen«, sagte Müller. »Wann kriegen Sie Fritz? Das hat Vorrang. Haben die Russen dem Schellenberg einen ins Nest gesetzt.« Man musste Müller gut kennen, um zu ahnen, dass er lächelte. Jeder wusste, Müller hasste Schellenberg, er hielt ihn für einen Aufschneider, einen Lebemann. Der Verräter käme ihm ganz recht, dachte Krause. Wäre eine schöne Blamage für den SD-Chef. Müller saß da und schwieg, das war seine Hauptbeschäftigung.
»Gruppenführer, bekommen wir die Peilwagen?«, unterbrach Krause.
Müller sah ihn leblos an und nickte.
»Und wann, Gruppenführer?«
»Bald«, sagte Müller. »Wir warten nicht, wir suchen Fritz mit allen Mitteln. Ich hab mit dem Nebe gesprochen, die haben einen Zeichner, der malt ein Bild nach der Beschreibung von dem Weißgerber. Das drucken wir. Und dann schicken wir die Schupos los und jeden, der keinen wichtigen Auftrag hat, die sollen Zehlendorf und Lichterfelde umgraben. Der Zeichner wird sich nachher bei Ihnen melden.«
Krause hätte fast leise gepfiffen. Wenn Müller den Reichskriminaldirektor Arthur Nebe um Hilfe bat, meinte er es wirklich ernst. Denn das bedeutete, im Erfolgsfall dem Konkurrenten ein Stück vom Ruhm abtreten zu müssen. Da kam eine Riesengeschichte ins Rollen. Und er, Krause, war mittendrin. Wenn er Fritz schnappte, war er der Größte. Und wenn er den Verräter aufspürte, waren die vorzeitige Beförderung und das EK I angesagt. Krauses Müdigkeit verflog, die Schmerzen im Zeh waren fast vergessen, seine größte Aufgabe wartete auf ihn. Der Verräter musste gestellt werden.
Aber wenn Weißgerber gelogen hat? Wenn er uns ablenken will von einer anderen großen Sache? Ein Scheißgefühl, dachte Krause, dann lande ich an der Ostfront. Aber würde Weißgerber das Leben seiner Frau und seiner Tochter aufs Spiel setzen? Oder war ihm schon alles egal? Ahnte er, dass wir sie niemals laufen lassen würden?
Ungeduldig wartete Krause in seinem Dienstzimmer, Weißgerber sollte ihm vorgeführt werden. Er blätterte in einem Bericht. Ein Kommunist, ein gewisser Paul Fahr, hatte versucht, sich im Konzentrationslager Buchenwald in den Elektrozaun zu stürzen. Gefangene hatten ihn in letzter Sekunde daran gehindert.
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