Der 21. Juli
mit den Personenscheiben waren belegt, Krause entschied sich für den Platz rechts außen. Auf dem Weg dorthin erkannte er Otto Westenbühler, Oberführer und einer der Wirtschaftsheinis der SS, denen auch die Konzentrationslager unterstanden. Westenbühler war ein feiner Kerl, ein offener Typ, der seinen Stolz nicht verbarg über den Aufbau des riesigen Wirtschaftsimperiums der Schutzstaffel. Aus Hitlers Leibwache war binnen weniger Jahre ein Orden erwachsen, mächtiger als viele Staaten der Erde. Und Westenbühler war von Anfang an dabei gewesen. Nun hatte er sich Ohrenschützer aufgesetzt und schoss konzentriert ein Magazin leer. Krause hatte mit Westenbühler ein paar Mal um die Wette geschossen und meistens verloren. Der kleine Oberführer schoss selten eine Fahrkarte, er traf zuverlässig die Scheibe, wenn auch selten die Zehn.
Krause setzte sich die Ohrenschützer auf und nahm seine Luger 08 aus der Pistolentasche am Gürtel, zog den Schlitten nach hinten, ließ ihn nach vorne schnellen, mit einem metallischen Klacken schob der Verschluss ein Neun-Millimeter-Geschoss ins Patronenlager. Beidhändig zielte er auf den Kopf des Pappkameraden und drückte in schneller Folge dreimal ab. Die Wucht des Rückstoßes riss jedes Mal den Lauf nach oben. Mit einer Kurbel holte Krause den Pappkameraden nach vorn und markierte mit einem Stift die Treffer. Er war zufrieden: zwei Siebener, eine Acht.
Jemand tippte ihm auf die Schulter. Krause drehte sich um und hob den Ohrenschützer vom linken Ohr. »Na, Krause«, sagte Westenbühler. Und, mit einem Blick auf die Luger: »Noch ganz die alte Schule.«
Er hielt Krause auf der flachen Hand seine P 38 hin. »Probieren Sie es mal mit der. Kleiner, leichter, sicherer.«
Krause schlug die Hacken aneinander und streckte den Rücken. »Nein, nein«, sagte Westenbühler, »wir sind hier Sportskameraden.«
»Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich bleibe bei meiner 08.«
Westenbühler lachte. »Gut, wie Sie wollen. Sie sind ein sturer Kopf. Wir schießen einen aus, dreimal acht Schuss, einverstanden?«
Krause nickte. Er lud sein Magazin nach und sagte: »Nach Ihnen, Oberführer.«
»Ne, ne, fangen Sie an, das letzte Mal haben Sie verloren. Um was schießen wir? Eine Flasche Schampus nach dem Endsieg?«
»Eine Flasche nach dem Sieg«, sagte Krause. Er setzte sich die Ohrenschützer auf, kurbelte die Scheibe zurück an die Wand, zielte sorgfältig und schoss achtmal. Er holte die Schießscheibe wieder nach vorne und markierte befriedigt seine Treffer.
»Nicht schlecht«, sagte Westenbühler, »fünfundfünfzig Ringe. Sie haben wohl heimlich geübt.« Er lachte. Krause kurbelte die Scheibe zurück und trat zur Seite. Westenbühler hob seine Walther P 38 und feuerte hintereinander acht Schuss. Er betrachtete mit wachsender Befriedigung die Schießscheibe. »Zwoundsechzig«, sagte er grinsend.
»Sie sind wieder dran. Noch haben Sie eine Chance.« Aber Krause verlor wieder, wenn auch knapp.
Westenbühler schlug ihm freundlich auf die Schulter. »Da könn’se mal sehen, wir Wirtschaftsheinis sind auf Draht.« Sie setzten sich nebeneinander auf Stühle nahe dem Eingang und rauchten.
Von hier hatte man einen guten Überblick. Mit wachsender Aufmerksamkeit beobachteten sie einen hoch aufgeschossenen Sturmbannführer in der feldgrauen Dienstuniform des SD. Der Mann feuerte in rascher Folge acht Schuss mit seiner P 38, wechselte schnell das Magazin im Griffstück der Waffe, schoss eine zweite Serie, wechselte wieder das Magazin, schoss zum dritten Mal, dann holte er sich die Scheibe nach vorn.
»Die will ich sehen«, sagte Westenbühler und ging zu dem Stand. Krause kam mit. Sie standen im Rücken des Sturmbannführers, der konzentriert das Trefferbild betrachtete. Krause mochte es nicht glauben, vierundzwanzig Schuss in der Zehn. Das hatte er noch nie gesehen.
Der Sturmbannführer bemerkte sein Publikum erst jetzt. Er drehte sich um, Krause erkannte ein offenes Gesicht, wache blaue Augen. Der Mann schoss nicht nur gut, er sah auch verdammt gut aus. »Guten Tag«, sagte er ganz unmilitärisch mit einer angenehmen Baritonstimme. »Sturmbannführer Werdin, SD.«
»Kunstschütze, was?«, fragte Westenbühler anerkennend.
»Nein, Naturtalent.« Werdin grinste. »Es ist eine Frage der Konzentration und der Übung. Sie dürfen an nichts anderes denken als an den Pappkameraden. Die Waffe muss eins werden mit einem, als wäre sie ein natürliches Organ.«
»Können Sie das noch mal?«,
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