Der 26. Stock
dafür, dass jemand ihn wieder zum Leben erweckt oder ihm zumindest die Möglichkeit
verschafft hatte, sich unter den Lebenden zu bewegen.
Vera sah sich nicht noch einmal um. Sie fuhr die Rampe hinab, grüßte die Wachleute und fuhr weiter auf den Parkplatz, erleichtert,
dass niemand sie daran hinderte. Niemand würde mehr ihre Tochter schlagen. Sie stieg aus dem Wagen und hielt den Atem an.
Dann schob sie die I D-Card in den Schlitz, die sie seit ihrem letzten Arbeitstag aufbewahrt hatte. Als der Aufzug sich in Bewegung setzte, hörte sie
hinter sich ein metallisches Geräusch. Sie drehte sich um, überzeugt, dass gleich ihr Mann hereingerast käme, über die Leichen
der Wachmänner hinweg. Aber da war nichts, nur ein paar Kleinbusse, die neben einem Kanaldeckel standen. Die Aufzugtüren öffneten
sich, und Vera stieg ein, die Gesichter ihrer Mädchen klar vor Augen.
Als Zac den Eindruck hatte, dass genug Zeit verstrichen war, stellte er sich auf den Werkzeugkasten, um den Deckel besser
anheben zu können. Schnell erkannte er die von starken Leuchtröhren erhellte Tiefgarage. Er befand sich genau unter dem Turm.
Fünfundachtzig Meter weiter oben erwartete ihn sein Schicksal.Er sah sich um, so gut er das aus dieser Position konnte. Zwei Kleinbusse der Reinigungsfirma harrten geduldig aus, bis die
Wochenendschicht beendet war. Der Aufzugbereich war menschenleer, und auch die zahlreichen Behälter mit Desinfektionsmittel,
die er tags zuvor an den Wänden entlang aufgereiht gesehen hatte, waren verschwunden. Da hörte er Stimmen und das Aufheulen
eines Automotors. Er ließ den Deckel sinken und blieb einige Sekunden lang reglos stehen, dann hob er ihn wieder und sah sich
in der anderen Richtung um. An der Auffahrt standen zwei Wachleute neben der Metallschranke und unterhielten sich. Das überraschte
ihn nicht. Er hatte damit gerechnet, dass man nach den Vorfällen der vergangenen Nacht die Sicherheitsmaßnahmen verschärfen
würde. Zac wandte sich wieder in die andere Richtung. Gerade hielt ein Wagen neben den Bussen. Eine Frau zwischen vierzig
und fünfzig stieg aus und ging auf einen der Aufzüge zu. Sie wirkte sehr müde. Zac stieg von seinem Werkzeugkasten herunter
und warf einen Blick auf die Uhr. Wenn noch immer die üblichen Schichten galten, dauerte es noch lange bis zur Wachablösung,
die um Mitternacht stattfand. Die musste er wohl oder übel abwarten. Wenn jetzt nur Carlos hier gewesen wäre. Er hätte bestimmt
eine bessere Idee gehabt. Zac verschränkte die Arme und begann, ein paar alte Lieder vor sich hin zu summen. Hin und wieder
sah er nach, aber die Wachmänner standen immer noch am selben Platz. Stunden später, kurz vor der Wachablösung, hörte er die
ersten Schreie. Durch sein kleines Guckloch sah er, wie Männer und Frauen, Wachleute und Angestellte der Reinigungsfirma die
Feuertreppe herunterrannten. »Feuer, Feuer«, war in dem ganzen Chaos zu hören. In der Ferne heulte eine Sirene. Der Turm stand
in Flammen.
42
»Zieh dein neues Kleid an«, befahl Gaardner und warf Isabel die Tüte aus dem Bekleidungsgeschäft zu. »Ich will, dass du nach etwas aussiehst,
wenn sie kommen.«
Die Tüte traf Isabel ins Gesicht, aber sie protestierte nicht. Sie zog das apfelgrüne Abendkleid heraus. Ein paar Sekunden
lang sah sie Gaardner abwartend an, dann machte sie einen Schritt zur Tür. Er packte sie am Arm.
»Stell dich mal nicht so an, Süße! Du wirst dich doch wohl nicht schämen, dich vor mir umzuziehen.« Er hielt sie fest und
riss ihr den ersten Knopf von der Bluse. »Glaubst du, es schockiert mich, dich nackt zu sehen? Denkst du, ich stürze mich
dann gleich auf dich wie eine Raubkatze? Vielleicht wünschst du dir das im Grunde ja.«
Er stieß sie zurück. Isabel strauchelte und fiel auf den Teppich. »Tut mir leid«, stammelte sie, »ich …«
Gaardner lachte schallend und verließ den Raum, ohne die Tür ganz zuzumachen. Dann wartete er einige Sekunden und öffnete
sie wieder einen Spalt. Isabel knöpfte gerade den letzten Knopf ihrer Bluse auf.
»Ha! Ich schau dir was weg!«, schrie er und lachte abermals, als sie sich hastig die Bluse vor die Brust zog. Er wandte sich
wieder ab und ließ den Blick durch den großzügigen Saal voller Unterlagen, Drucker und Computerbildschirme schweifen. Er würde
nicht zulassen, dass die Angst ihm sein letztes bisschen Spaß raubte, bevor sie ihn holen kamen. Nachdem er ein paar Regale
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