Der 26. Stock
Schmerzensschrei. Gaardner ließ rasch ihre Schulter los. In seiner Anspannung hatte er noch fester
zugedrückt, und seine Nägel hatten sich ihr ins Fleisch gegraben. Isabel sackte in sich zusammen. Als sie wieder aufsah, schwamm
ihr Gesicht in Tränen.
»Ich verstehe nicht, was du da sagst«, schluchzte sie. »Ich … ich bin gerade erst aufgewacht, und auf einmal …«
»Halt den Mund!«
Isabel stand auf und starrte ihn entsetzt an. Gekrümmt schlich sie zu ihrer Tasche. Gaardner machte einen Schritt auf sie
zu.
»Was hast du vor?«, fragte er mit einem bedrohlichen Unterton.
»Ich hol mir doch nur ein Taschentuch. Was ist nur los mit dir? Ich kapiere das alles nicht … Du bist doch nicht so.«
Er erlaubte ihr, dass sie Platz nahm und sich die Tränen trocknete. Sie würde ihm wenig nützen, wenn sie hysterisch wurde.
Schließlich nannte er einen Namen, der sie aufmerken ließ: Miguel David.
»Was ist mit ihm?«, wollte sie wissen.
»Du kennst ihn, oder?«
Isabel nickte und zog unwillkürlich ein weiteres Tempo aus der Packung.
»Ja … ja …«, sagte sie zögernd. »Und du auch, oder? Luna sagte mir, dass er auf unserem Stockwerk gearbeitet hat. Und dann sei er noch
einmal befördert worden.«
»Befördert? Nein … Sie haben ihn sich geholt. Bis dahin hat ihm das Büro gehört, das du jetzt hast. Seither hat man nichts mehr von ihm gehört.
Ebenso wenig wie von Alfredo Torres, Sandra Arias und … Aber egal, die kennst du alle nicht, sie waren bei uns auf dem Stockwerk, lange bevor Hugo mich mit seinem Getrickse dazu
gebracht hat, dich hochzuholen. Reden wir besser über Leute, die dir näherstanden. Reden wir über … Alberto Hernán? Hat mir gefallen, wie du ihn neulich im Babel beschrieben hast. So höflich, so aufmerksam, und jetzt liegt
er irgendwo in einem französischen Krankenhaus. Nein, Isabel. Sie sind ihn holen gekommen, wie seine Sekretärin Vera. Und
natürlich auch Hugo. Du hast seit Tagen nichts mehr von ihm gehört, stimmt’s? Na, dann kannst du dir ja denken, was passiert
ist. Höchstwahrscheinlich ist er schon tot. Bestimmt haben sie ihn umgebracht.«
Isabel erstarrte und hörte mit einem Mal auf zu weinen.
»Apolo«, sagte sie. »Wer sind sie?«
»Ich weiß es nicht, Süße«, antwortete er. Er schüttelte denKopf und trat erneut auf sie zu. Isabel setzte sich sofort wieder hin. Gaardner sah auf die Uhr. »Ich weiß nur, dass sie mich
ebenfalls holen kommen, und zwar in genau zwei Stunden und fünfzig Minuten.«
»Aber warum?«
»Weil wir schuldig sind. Wegen unserer Tätigkeit hier, wegen der Projekte, die wir in der Firma haben. Irgendwem passt das
alles nicht. Viele von uns wurden bedroht und sind abgehauen, andere sind tot. Ein paar Kollegen haben versucht, mich zu warnen,
bevor sie verschwunden sind. Sie hatten Angst, Isabel. Und deshalb gehen dem Turm allmählich die Mitarbeiter aus. Deshalb
hat es so viele Beförderungen gegeben, um die Abgänge auszugleichen – weil wir immer weniger werden.«
Isabel zitterte.
»Aber das ist doch Wahnsinn. Es muss eine andere Erklärung geben.«
»Nein, die gibt es nicht«, versetzte Gaardner. »Aber du solltest dir keine Sorgen machen. Du weißt ja nichts. Du hast nie
kapiert, worum es in unserem Unternehmen wirklich geht. Was wir tatsächlich machen.«
»Was soll das heißen?«, fragte Isabel gereizt. »Ich arbeite hier seit etlichen Jahren. Wir sind in der Anlagenherstellung,
im Automobilsektor, wir bauen Computer …«
»…Waffen, Spionagesatelliten, wir betreiben Immobilienspekulation, militärische Forschung und Logistik. Was schaust du so?
Herrgott noch mal! Bist du wirklich so naiv? Wir sind eines der bedeutendsten Unternehmen im Land. Was glaubst du denn, wie
wir es so weit gebracht haben? Die Öffentlichkeit weiß davon natürlich nichts. Dafür sorgen schon unsere Freunde in der Politik.
Aber ich weiß es, Hugo wusste es, Alberto, Vera, Miguel … Wir alle standen irgendwann vor der entscheidenden Frage, ob wir hier weitermachen sollen oder nicht.
Erst wurden einem nur Kleinigkeiten angetragen. Ich habe im Kundenservice angefangen, wusstest du das? Wenn ein unzufriedener
Kunde anrief, bestand mein Job darin, ihn mürbe zumachen. Also verband ich ihn von Abteilung zu Abteilung weiter, bis er entnervt aufgab. Ich schätze, schon damit habe ich
mich schuldig gemacht. Von da an trug ich Verantwortung dafür, dass unsere Firma auf Kosten anderer
Weitere Kostenlose Bücher