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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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Konzern ausreichend Kontakte, um Isabels Empfehlung zu einer reinen Formsache
     werden zu lassen, aber ihr gefiel er nicht. »Ich bin Richard de Castro«, hatte er sich vorgestellt und unaufgefordert Platz
     genommen. »Im Pass steht noch Ricardo, aber Richard klingt edler und passt besser in die Geschäftswelt. Sie können mich auch
     gern Rick nennen.«
    Der Kerl hatte einen teuren Anzug und Wildlederschuhe getragen und sein Blick hatte eindeutig besagt: »In zwei Monaten verdiene
     ich mehr Geld als du.« Isabel hatte seine herablassende Art missfallen, und so schrieb sie das nun auch in ihren Bericht.
     Es war nicht das erste Mal, dass sie das mit einem Kandidaten machte, der auf seine guten Beziehungen setzte, und auch diesmal
     hatte sie nicht vor, ein Auge zuzudrücken, wie es die Kollegen ihr anfangs empfohlen hatten.
    Allerdings gelang es ihr erst im vierten Versuch, darzulegen, was genau an Rick, Richard oder wie auch immer er sich nennen
     wollte, so einen schlechten Eindruck bei ihr hinterlassen hatte. Nicht einmal die Routine aus Hunderten solcher Berichte,
     die sie schon verfasst hatte, half ihr, die passenden Worte zu finden. Immer wieder sah Isabel rote Striche vor sich. Es waren
     frische Wunden gewesen. Abermals wurde eine neue Nachricht angezeigt. Isabel klickte sie an.
     
    Macht dir irgendetwas Sorgen? Wenn du reden willst, ruf mich an.
     
    Wie hatte Carlos das nur gemerkt? Isabel warf einen Blick auf die Nachricht, die sie ihm wenige Minuten zuvor geschickt hatte.
     Carlos musste über ein beeindruckendes Maß an Empathie verfügen,wenn er ihre Besorgtheit daraus lesen konnte. Er kannte sie doch kaum. Sie drückte auf Antworten und schrieb in das weiße
     Textfenster:
     
    Vera hat mir gesagt,
er
sei zurückgekehrt. Aber was zum Henker soll das heißen?
     
    Sie starrte ein paar Minuten lang auf den Satz, der auf dem Bildschirm stand, und löschte ihn dann. Sie konnte sich vorstellen,
     wie verwirrt Carlos darauf reagieren würde. Isabel wünschte, sie hätte ihn schon vor Jahren kennengelernt, dann hätte sie
     ihm jetzt alles erzählen können, ohne befürchten zu müssen, dass es ein Fehler war. Sie stand auf. Ein Kaffee würde ihr jetzt
     helfen, sich zu konzentrieren.
    Der Korridor war leer. Aus einem nahen Gang war das Rattern eines Kopierers zu hören. Isabel wählte am Automaten einen Espresso
     und während sie ihn trank, fiel ihr Blick auf eines der Bilder an der Wand. Sie konnte sich nicht erinnern, es jemals genauer
     betrachtet zu haben. Es zeigte ein Foto Mitte der 1970er Jahre, als gerade die Fundamente des Hochhauses gelegt wurden. Die
     Szene war in Sepiatönen gehalten; das Foto sollte wohl wie die alten Bilder vom Empire State Building wirken. Mehrere Männer
     mit Helmen auf dem Kopf standen um einen Schaufelbagger herum, mit dem die Baugrube ausgehoben wurde.
    »Weißt du, wie viele Bauarbeiter damals ums Leben gekommen sind?«, fragte eine Stimme hinter ihr. Es war Hugo, der über den
     Korridor auf sie zukam. Isabel schüttelte den Kopf. »Sieben, einer pro vier Stockwerke. Unser Wolkenkratzer ist ein kleiner
     Friedhof.«
    »Ist ein Gerüst eingestürzt?«, fragte Isabel, die vom Bauwesen keine Ahnung hatte.
    »Nein, nein. Der eine ist aus großer Höhe hinuntergefallen, weil er nicht ausreichend gesichert war, der Nächste hat einen
     Balken auf den Kopf bekommen, und so weiter. Auf der Dachterrasse gibt es eine kleine Gedenktafel für jeden von ihnen.«
    »Hast du sie gesehen?«
    »Nein, ich nicht«, antwortete Hugo schulterzuckend und holte sich eine heiße Schokolade. »Ich bin nie so weit oben gewesen.
     Wusstest du eigentlich, dass Schokolade ein stärkeres Suchtpotenzial hat als Zigaretten? Da man mich nicht Pfeife rauchen
     lässt, muss ich mich mit dem Zeug hier begnügen. Wenn ich dann so richtig abhängig bin, muss mir die Firma eine Entziehungskur
     zahlen.«
    Sie lachten. Isabel hatte nur für kurze Zeit geraucht, hatte aber seit jeher eine Schwäche für Süßigkeiten. Hugo betrachtete
     eingehend das sepiafarbene Foto, während er aus dem Becher trank. Dann drehte er sich um und musterte Isabel. Sein sonst immer
     freundliches Lächeln war verschwunden.
    »Isabel, würde es dir etwas ausmachen, wenn wir kurz zu dir ins Büro gehen?«
    Sie schüttelte den Kopf und sah Hugo neugierig an. Er war einer der wenigen, die wie sie schon sehr lange im zwölften Stock
     arbeiteten, wodurch sie ein Vertrauensverhältnis hatten.
    Im Büro schloss Hugo die Tür und

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