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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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sie weniger
     als die Aussicht, jemandem etwas angetan zu haben. Der Arzt schüttelte den Kopf beruhigend. Dann schrieb er und hielt Cassandra
     wieder das Notizbuch hin.
     
    Keine Sorge. Sie haben niemandem etwas getan. Machen Sie jetzt mit meinem Assistenten einen kleinen Spaziergang. Anschließend
     führen wir ein paar Tests durch, und dann erzähle ich Ihnen, was passiert ist.
     
    Cassandra atmete tief durch. Der Arzt stand auf und verließ den Raum. Sie erhob sich ebenfalls und machte ein paar Schritte.
     Ihr war schwindlig und übel vor Schmerz. Cassandra hielt inne und zog die Ärmel des weißen Pyjamas hoch, den man ihr angezogen
     hatte. Sie erschrak, als sie fast ein Dutzend blaue Flecken sah, die über ihre Unterarme verteilt waren. Fragend sah sie den
     Krankenpfleger an, doch der warf nur einen kurzen besorgten Blick darauf und setzte seinen Weg dann fort.
    Als Cassandra aus dem gepolsterten Raum hinaustrat, musste sie die Augen zusammenkneifen. Helles Morgenlicht strömte durch
     die breiten Fenster, die einen langen Korridor säumten. Es waren keine anderen Patienten zu sehen. Sie rieb sich die Augen.
     Es war, als sähe sie die Sonne seit Jahren zum ersten Mal. Sie fragte den Krankenpfleger, wie lange sie geschlafen hatte.
     Er hob mehrmals die Finger einer Hand und bewegte langsam und deutlich die Lippen. Dreißig Stunden. Sie hatte über einen Tag
     geschlafen. Langsam gingen sie den Korridor entlang. Durch die Fenster sah Cassandra einen herrlichen Park mit Bäumen und
     üppigen Farnen. Als sie auf eine breite Glastür zusteuerte, hielt der Krankenpfleger sie fest und schüttelte den Kopf. Sie
     konnte nicht hinaus. Sie war gefangen. Die beiden setzten ihren Weg über den Korridor fort; Cassandra schloss die Augen und
     ließ sich von ihrem Begleiter führen, der sie am Arm gefasst hielt.
    Sie hatte sich das Hotelzimmer genommen, nachdem sie sich von ihrer Freundin verabschiedet hatte, von Isabel. Dann hatte sie
     versucht zu schlafen und war von dem Weinen geweckt worden, von diesem entsetzlichen Geschrei. Sie zog den Kopf ein, als ihr
     die schrillen Schreie wieder einfielen. Sie hatte das Weinen einfach loswerden müssen. Sie war aufgestanden, ins Bad gegangen,
     hatte eine Schere genommen   … Erneut gaben ihre Beinenach, und sie wäre gestürzt, wenn ihr Begleiter sie nicht gehalten hätte. Erschrocken brachte er sie ans Ende des Korridors
     in eine Art Behandlungsraum und legte sie auf eine Liege. Dann bedeutete er ihr, sich nicht von der Stelle zu rühren, und
     ging hinaus. Mit Mühe richtete Cassandra sich auf.
    Neben einem Schreibtisch befand sich ein kleines Waschbecken mit Spiegel. Sie musste überprüfen, ob sie noch sie selber war.
     Sie ließ sich von der Liege gleiten. Ihre Schläfen brannten. Als sie in den Spiegel sah, begriff sie, warum der Pfleger einen
     Arzt holen gegangen war. Sie war totenbleich, unter dem Verband auf beiden Seiten des Kopfes jedoch breiteten sich dunkelrote
     Flecken aus. Sie drehte den Hahn auf und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Sie war völlig erschöpft, und der Schmerz nahm
     von Sekunde zu Sekunde zu. Sie trank ein paar Schlucke. Als sie sich wieder auf die Liege legen wollte, fiel ihr Blick auf
     etwas, das ihr zuvor entgangen war. Auf dem Schreibtisch stand, verborgen hinter einem Stapel Zeitschriften, ein kleines Telefon.
     Cassandra zögerte keine Sekunde. Sie wollte ihren Exmann anrufen, den einzigen Menschen, der ihr noch blieb, doch als sie
     dann abhob, wählten ihre Finger eine andere Nummer. Sie sah zur Tür. Jeden Augenblick konnte der Krankenpfleger mit dem Arzt
     wiederkommen. Cassandra wartete einige Sekunden ab und sprach dann auf gut Glück los:
    »Isabel? Isabel?« Wut überkam sie, nicht hören zu können, ob ihre Freundin den Anruf entgegengenommen hatte. Vielleicht rief
     die andere gerade: »Wo bist du? Was ist passiert?« Aber das spielte keine Rolle, es gab etwas viel Wichtigeres, denn Cassandra
     ahnte, dass sie selbst längst verloren war. Sie starrte zur Tür. Ihr blieb nur die Hoffnung, dass ihre Freundin sie jetzt
     hörte. »Isabel? Wenn du mich hören kannst – du musst abhauen. Hör auf mich.«
    Plötzlich sah sie den Arzt eintreten, gefolgt von dem Pfleger, der augenblicklich auf sie zustürzte.
    »Ich muss Schluss machen«, rief sie noch schnell. »Hau ab, Isabel. Hau ab!«
    Es war das Letzte, was sie herausbekam, bevor ihr der Mann den Hörer entriss und ihn ärgerlich auf den Tisch knallte. Er schien
     ihr

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