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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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alles, und sie hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten.
    Dann näherte sich pochend ein spitzer Schmerz, der langsam anschwoll. Das Bedürfnis befiel sie, sich in einem Spiegel zu betrachten
     und zu sehen, dass es ihr gut ging, dass ihr Gesicht sich nicht verändert hatte, dass sie immer noch sie selbst war, doch
     da fiel ihr ein, was geschehen war. Cassandra schloss die Augen. Woran sie sich nicht erinnern konnte, war, wie sie hierhergekommen
     war. Sie befand sich in einem ausgepolsterten Raum. Sie sah an ihrem Körper hinunter und stellte fest, dass man sie in eine
     Zwangsjacke gesteckt hatte, deshalb konnte sie sich nicht regen. Aber sie war nicht verrückt. Was war nur passiert? Sie versuchte
     aufzustehen, brach jedoch geschwächt, wie sie war, auf dem gepolsterten Boden zusammen. Es wunderte sie, dass sie ihreigenes Fallen nicht hören konnte. Ihr war schwindlig. Bestimmt hatte man ihr Schmerzmittel verabreicht. Mit Mühe schleppte
     sie sich zur Tür.
    Als sie rufen wollte, spürte sie ein Vibrieren im Hals. Jemand musste sie doch hören. Selbst wenn die Tür schalldicht war,
     musste jemand hier sein und auf sie aufpassen. Sie rief noch einmal.
    Dann taumelte sie zwei Schritte zurück, und obwohl sie versuchte, das Gleichgewicht zu halten, stürzte sie erneut. Die Polsterung
     dämpfte den Fall. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Was, wenn jemand antwortete und sie einfach nichts hörte? Sie wusste
     nicht, wo sie war. In einem Irrenhaus, im Gefängnis oder vielleicht an einem noch schlimmeren Ort. Es war ihr egal, was man
     mit ihr machen würde, aber sie musste herausfinden, wo sie war. Ihr Atem ging unregelmäßig. Der Schmerz in ihren Ohren wurde
     immer bohrender.
    Plötzlich wurde ein Fensterchen in der Tür zurückgeschoben, und in der schmalen Öffnung erschien ein Augenpaar. Wieder wollte
     sie aufstehen, doch es gelang ihr nur, sich auf die Seite zu wälzen und zur Tür hochzustarren. Sie versuchte zu sprechen.
     Sie spürte, wie die Luft aus ihrem Mund entwich. Das Fenster schloss sich wieder. Auf einmal kam es ihr vor, als würde sie
     sich einen Film ansehen, und nichts von dem, was hier geschah, wäre wirklich. Es war nur ein Traum, ein Traum ohne Ton. Das
     wirkliche Leben war voller Musik, Stimmen, Geräusche. Hier dagegen gab es nur Stille. Da öffnete sich die Tür, und ein hünenhafter
     Schwarzer kam herein, gefolgt von einem Arzt, einem älteren Herrn mit freundlichem Gesicht. Der Arzt beugte sich zu ihr herunter
     und schenkte ihr ein Lächeln aus faltigen Wangen. Er erteilte dem Riesen ein paar Anweisungen. Dann zog er einen Kugelschreiber
     und ein Büchlein aus der Tasche seines Kittels. Einige Sekunden lang schrieb er sorgfältig vor sich hin, dann reichte er ihr
     den Zettel.
     
    Ich bitte Sie, sich etwas zu gedulden. Mein Assistent bringt uns gleich zwei Stühle, dann können wir in Ruhe reden. Haben
     Sie sich ausruhen können?
     
    Cassandra nickte. Der Helfer kam mit zwei Stühlen zurück und stellte sie in die Mitte des Raums. Er hob Cassandra wie einen
     kleinen Gegenstand vom Boden auf und half ihr, auf einem der Stühle Platz zu nehmen. Dann nahm er ihr die Zwangsjacke ab.
     Sie führte rasch die Hände zum Kopf. Über den Ohren trug sie einen Verband. Unwillkürlich warf sie dem Arzt einen entgeisterten
     Blick zu. Er legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm und schrieb dann in sein Büchlein.
     
    Machen Sie sich keine Sorgen. In Kürze geht es Ihnen wieder gut. Es sind noch einige Tests durchzuführen, aber der zuständige
     Kollege sagt, Sie werden bald wieder hören können.
     
    Cassandra las diese Worte und griff nach dem Kugelschreiber, aber der Arzt zog ihn weg, als hätte er nur auf diese Bewegung
     gewartet. Cassandra sah den Arzt und seinen Assistenten an. Beide beobachteten sie besorgt. Der Arzt machte dem Krankenpfleger
     ein Zeichen, und der machte zwei Schritte auf sie zu. Schließlich reichte der Arzt ihr den Kugelschreiber. Sie verstand sofort.
     Die Männer befürchteten, sie könnte ihn dazu verwenden, sich Schaden zuzufügen, oder vielleicht auch   … Panik machte sich in ihr breit. Mit zittriger Hand schrieb sie, Buchstabe für Buchstabe, in krakeliger Schrift – voller
     Angst, die Antwort auf ihre Frage könnte ihr das Leben von nun an zur Hölle machen. Der Arzt nahm sein Büchlein entgegen.
     
    Was habe ich getan?
     
    Der Mann las und sah Cassandra traurig an. Der Gedanke, zu erfahren, dass sie verrückt geworden war, schreckte

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