Der 3. Grad
Gedanke ihm schwer zu schaffen machte. »Trotzdem, wir müssen ja schließlich irgendwas essen...« Er verzog die Lippen zu einem schiefen Lächeln.
Ich hielt das Lenkrad fest umklammert und spürte, wie meine Hände zu schwitzen begannen. Puh. Es gab zirka einhundert Gründe, weshalb diese Entscheidung falsch sein könnte. Aber zum Teufel, wir lebten schließlich nur einmal.
Ich sah Molinari an und lächelte. »Ja, das müssen wir.«
59
Die neueste E-Mail haute Cindy fast vom Stuhl. Zum ersten Mal war sie ein
Teil
der Story, nicht wie sonst nur diejenige, die sie aufschrieb.
Und sie hatte ein bisschen Angst. Wer hätte ihr das verdenken können, nach allem, was passiert war? Aber zum ersten Mal in ihrer Karriere hatte sie auch das Gefühl, wirklich etwas Gutes zu tun. Und das gab ihr einen ganz besonderen Kick. Sie holte tief Luft und fixierte ihren Computerbildschirm.
Für die Sache in Portland sind wir nicht verantwortlich
, hatte die Nachricht gelautet.
Aber wieso die Beteiligung an diesem Verbrechen von sich weisen? Wieso dieses nur aus einem Satz bestehende Dementi?
Um sich abzusetzen. Um ihre Kampagne von der Aktion eines Nachahmungstäters abzugrenzen. Das war offensichtlich.
Aber das flaue Gefühl in ihrer Magengrube verriet ihr, dass möglicherweise noch mehr dahinter steckte.
Vielleicht interpretierte sie zu viel hinein. Aber was, wenn – sie spekulierte einfach ins Blaue hinein –, wenn sich nun hinter dem Dementi noch etwas anderes verbarg?
Ein Gewissen
.
Nein, das ist verrückt
, dachte sie. Diese Leute hatten Morton Lightowers Haus in die Luft gesprengt, ihn und seine Frau getötet und den Tod eines Kindes in Kauf genommen. Sie hatten Bengosian ein fürchterliches Gift eingeflößt. Aber sie hatten die kleine Caitlin verschont.
Und noch etwas... Cindy vermutete, dass die Person, die ihr diese Botschaften schickte, eine Frau war. Sie hatte von »unseren Schwestern« gesprochen, die als Sklavinnen in Ausbeuterbetrieben arbeiten mussten. Und sie hatte sich ausgerechnet an Cindy gewandt, obwohl es nun wirklich keinen Mangel an Reportern in dieser Stadt gab. Warum Cindy?
Wenn in dieser Person nur ein Funke Menschlichkeit war, dachte Cindy, dann könnte sie eventuell daran appellieren. Vielleicht könnte sie ihr Vertrauen gewinnen und ihr etwas entlocken – einen Namen, einen Ort. Vielleicht war es das Kindermädchen, das die Mails schrieb; vielleicht hatte sie ein Herz.
Cindy knackte mit den Fingergelenken und beugte sich über die Tastatur. Alsdann...
Sie schrieb:
Sagen Sie mir bitte eines: Wieso tun Sie so etwas? Ich glaube, dass Sie eine Frau sind. Habe ich Recht? Es gibt bessere Methoden, Ihre Ziele zu erreichen, als Menschen zu töten, die in den Augen der Welt keine Schuld trifft. Sie können mich benutzen. Ich kann Ihre Botschaft verbreiten. Bitte... Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich zuhöre. Das tue ich wirklich... Benutzen Sie mich. Bitte... Vergießen Sie kein Blut mehr
.
Sie las das Geschriebene noch einmal durch. Es war gewagt.
Sehr gewagt sogar.
Und als sie so grübelnd vor ihrer Mail saß, wurde ihr eines klar: Wenn sie die Nachricht abschickte, dann würde sie endgültig ein Teil dieser Geschichte werden; es würde ihr ganzes Leben verändern.
»
Sayonara
«, flüsterte sie ihrem alten Leben zu, dem Leben der passiven Beobachterin und Reporterin. Sie klickte auf
Senden
.
60
Der Rest des Tages verging mit reichlich Arbeit. Ich hatte eine einstündige Besprechung mit Tracchio, und ich ließ Jacobi und Cappy noch einmal mit Hardaways Foto die Bars um Berkeley herum abklappern. Zwischendurch schweiften meine Gedanken immer wieder ab, und ich spürte, wie mein Herz einen Tick schneller schlug, wenn ich an den Abend dachte. Aber wie Joe Molinari richtig bemerkt hatte – wir mussten schließlich irgendetwas essen.
Später, als ich zu Hause unter der Dusche stand, den frischen Lavendelduft einatmete und mir den Schmutz des Tages von der Haut spülte, breitete sich ein schuldbewusstes Lächeln über mein Gesicht aus:
Da stehe ich nun, mit einem Glas Sancerre auf der Fensterbank und einem kribbligen Gefühl auf der Haut, wie ein Teenager vor dem ersten Date
.
Ich wuselte hin und her, räumte hier und da ein bisschen auf, stellte die Bücher ins Regal zurück, sah nach dem Huhn, das im Ofenrohr vor sich hin schmorte, fütterte Martha und deckte den Tisch mit Blick über die Bucht. Dann fiel mir ein, dass Jill sich nach wie vor noch nicht gemeldet hatte. Das war einfach
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