Der 50-50 Killer
würde dich gern sehen. Ich hab ein schlechtes Gewissen, weil ich Scott anlügen muss, aber ich glaube, es könnte mir guttun. Ich weiß nicht. Kannst du dir morgen freinehmen? Obwohl ich das frage, bin ich sicher, dass einer deiner sechzehn Sklaven die Stellung für dich halten wird! Ich könnte mich krankmelden und vorbeikommen. Wäre das in Ordnung?
Und dann eine letzte Mail von Simpson:
Das kann ich machen, sicher. Ich steh früh auf, komm also irgendwann vorbei. Wenn ich nichts von dir höre, erwarte ich dich, aber mach dir keine Sorgen, wenn du es nicht schaffst. Die Kaffeemaschine steht schon bereit! Hoffe, dass ich dir helfen kann. Mach’s gut, Kevin x
Ich sah in der Akte nach, ob noch mehr angekommen waren, doch das war alles. Das war ihr kompletter Austausch von E-Mails.
Mein Stirnrunzeln hielt an.
Es waren im Lauf der Untersuchung viele Vermutungen angestellt worden, und eine davon war, dass Jodie und Kevin eine Affäre hatten. Aber eigentlich hatten wir dafür keine Beweise, wir hatten es lediglich aus den Worten des Mörders auf der Tonbandaufnahme geschlossen und aus der Tatsache, dass Jodie den Tag vorher bei Simpson gewesen war.
Diese E-Mails bestätigten unsere Vermutung nicht. Die letzte Nachricht würde sie, aus dem Zusammenhang gerissen, belasten, deshalb vermutete ich, dass es diese E-Mail war, die der 50/50-Killer Scott gezeigt hatte. Doch als Teil des ganzen Mailwechsels war sie harmloser, als sie schien. Vielleicht hatte Jodie Kevin nur besucht, um einfach Probleme mit einem alten Freund zu besprechen, dem sie nicht die ganze Vorgeschichte zu erzählen brauchte.
Ich verspürte eine plötzliche Nervosität. Hier ging es um etwas Wichtiges, aber ich war nicht sicher, um was. Ich klickte mich noch einmal durch die E-Mails.
Sollen wir uns mal treffen?, hatte Kevin geschrieben. Nur als alte Freunde, das verspreche ich dir – ich bin jetzt über all das hinweg.
Und vorher:
Ich wollte niemals, dass du weggehst … Eigentlich wäre »angefleht« das richtige Wort, aber lassen wir das jetzt beiseite.
Nein, dachte ich, das lassen wir nicht beiseite. Warum hast du sie angefleht, nicht zu gehen?
Die Antwort kam eine Sekunde später, mit den Worten des Mörders.
Du meinst, du liebst sie, oder?
Mir wurde klar, dass das, was vor zwei Jahren geschehen war, für Jodie nur ein dummer Fehler im Suff gewesen war. Für Kevin Simpson jedoch war es mehr gewesen. Sie waren vom Studium her befreundet, waren später Kollegen gewesen, und das war ihm nicht genug. Was passiert war, war genau das, was er gewollt hatte.
Behutsam legte ich diesen Gedanken hin und bemerkte mit düster-freudiger Erregung, dass er genau passte. Ich war noch nicht sicher, was für ein Bild sich da zusammensetzte, aber ich saß einfach still da und ließ meinen Gedanken freien Lauf.
Kurz danach beugte ich mich vor und öffnete das Foto des Spinnennetzes, das in Simpsons Haus an die Wand gemalt worden war. Wenn Mercer recht hatte, dann sah der Mörder die Beziehung zwischen Kevin und Jodie genauso, sie war das »Opfer«, hinter dem er her war. Doch wenn ich recht hatte, dann hatte es eine Beziehung als solche gar nicht gegeben oder jedenfalls keine, die von beiden Seiten akzeptiert wurde.
Und das war nicht der einzige Unterschied zu den früheren Verbrechen. Es ging auch um die Regeln dieses Spiels. Jodie hätte nicht leiden müssen, um Kevin Simpson zu retten. Ja, sie hatte nicht einmal gewusst, dass eine Entscheidung zu treffen gewesen war.
Ich hatte angenommen, dass der 50/50-Killer Folter bei der Person anwendete, die die Wahl hatte, um sie dazu zu bringen, dass sie sich anders besann. Entweder wegen des eigenen Schmerzes oder wegen der Schuldgefühle und des Kummers ihres Partners. Aber trotz der Folter hatte es hier kein Hin und Her gegeben, keine Gelegenheit, sich anders zu entscheiden, oder für einen Rollentausch des Opfers. Warum? Hatten die Unterschiede in der Beziehung diese geänderten Spielregeln erforderlich gemacht? Ich versuchte, mir über die Auswirkungen dieser Idee klar zu werden. Was hatte er vor?
Aus dem Augenwinkel sah ich eine Bewegung auf dem Bildschirm, die Kreise kamen stetig, aber langsam voran. Sie hatten etwas mehr als die Hälfte des Weges hinter sich.
Nicht darauf achten.
Eindrücke und Ideen wirbelten in meinem Kopf herum wie ein Schwarm aufgeschreckter Vögel. Irgendetwas musste sich lange genug niederlassen, damit ich es erkennen konnte. Ich starrte die Zeichnung des
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