Der 50-50 Killer
etwas Ähnliches – gehofft hatte. Sofort war er aktiv und wieder voll bei der Sache. Ich beneidete denjenigen nicht, der versuchen würde, ihm jetzt mit einem »Nein« zu kommen.
»Sie haben doch früher schon Opfer vernommen, oder?«, fragte Greg.
»Klar.«
Zugegebenermaßen niemals jemanden in einer solchen Lage, aber ich hatte einige Erfahrung mit nach der Tat traumatisierten Opfern. Ich wusste also Bescheid.
»Sind Sie nervös?«
»Eigentlich nicht«, sagte ich. »Ich freue mich darauf.«
Das stimmte gewissermaßen. Rein praktisch gesehen wusste ich, dass dies eine echte Chance war, sowohl meine Fertigkeiten einzusetzen als auch die Ermittlung weiterzubringen. Aber andererseits war ich viel nervöser, als ich mir eingestehen wollte. Beim Gedanken an die Aufnahmen von Daniel Roseneil war mir klar, dass dies weder eine einfache noch eine angenehme Aufgabe sein würde, allerdings ist ein Gespräch mit Opfern das nie. Aber es steckte mehr dahinter als das. Trotz meiner Müdigkeit war ich aufgeregt.
Ich schaute auf die Uhr. Greg sah es.
Er sagte: »Ich bin fix und fertig.«
»Ich auch.«
Eine Minute später bog er links ab und fuhr hinter Pete und Simon auf einen Parkplatz vor der Notaufnahme. Es war eine große schwarze Asphaltfläche, an deren hinterem Ende sich die Anmeldung befand. Die Lichter im Inneren des Gebäudes waren so hell, dass mir die Augen schon vom Hinsehen wehtaten. Der Boden war an manchen Stellen schneebedeckt, an anderen von den Schleifen der Reifenspuren zu Matsch gefahren. Pete und Simon fuhren mit ihren Wagen ganz nah an die Parkspur für Krankenwagen heran. Greg folgte und parkte neben ihnen; wir stiegen alle aus.
Zwei Sanitäter in grünen Anzügen standen rauchend am Eingang. Wir grüßten sie mit einem Kopfnicken, als wir vorbeigingen; sie nickten uns zu, aber der Anblick von fünf Polizisten zu dieser nächtlichen Stunde ließ sie offenbar völlig kalt.
In der Anmeldung standen links von den automatischen Türen Reihen orangefarbener Plastikstühle auf Stahlbeinen, die gruppenweise vor Getränkeautomaten und billigen Metalltischchen angeordnet waren. Etwa die Hälfte der Stühle war besetzt. Zwei Jugendliche standen, auf den Fußballen wippend, vor einem dritten, der benommen dahockte und sich die blutende Stirn hielt. An der Rückwand saß mit gebieterischem Ausdruck ein älterer Mann in Jeans, die Arme hoch über der Brust verschränkt, was sein von jahrelangem Alkoholkonsum hochrotes Gesicht noch unterstrich. Ein paar Stühle weiter hielt ein Paar ein kleines weinendes Mädchen zwischen sich, das seinen Arm von sich wegstreckte wie einen im Garten gefundenen toten Vogel. Ein Betrunkener war in der Ecke zusammengesackt. Eine dünne alte Frau, deren Gesicht einen Farbton wie Essig hatte, saß in einem Rollstuhl. Drei jüngere Paare saßen hier und dort dazwischen, alle Männer hatten vom Trinken gerötete Gesichter.
Ich erinnerte mich, dass mir die Polizeistation heute früh wie das Wartezimmer einer Klinik vorgekommen war. Jetzt ging ich durch den Anmeldungsbereich eines Krankenhauses, das eher wie ein Warteraum für Verhaftete aussah. Als wir zum Schalter hinübergingen, war mir bewusst, dass uns alle beobachteten.
Auf einem oben an der Wand hängenden Bildschirm erschienen in roten Lettern Informationen für die Wartenden. Die Patienten werden nicht in der Reihenfolge ihrer Ankunft aufgerufen … durchschnittliche Wartezeit: 2 Stunden. Hinter dem Schalter ging es zu wie in jedem beliebigen Büro: leises Klingeln der Telefone, Tippen auf Tastaturen, Summen der Computer. Der Schaltertisch war lang und breit, und eine junge Schwester saß dahinter. Sie sah auf und lächelte. Mercer lehnte sich auf den Tisch und bemühte sich nicht, das Lächeln zu erwidern.
»Detective John Mercer«, sagte er. »Wir möchten Dr. Li sprechen. Wegen Scott Banks.«
»Einen Moment.«
Sie nahm den Hörer und wählte. Die beschwipsten Jungen hinter uns, die uns gar nicht bemerkten oder denen unsere Gegenwart gleichgültig war, fingen einen Scheinkampf an und führten die Schlägerei noch einmal vor, die sie hierhergebracht hatte. Einer von ihnen stieß Kinnhaken in die Luft. Er schien mächtig stolz darauf zu sein, was er mit jemand anderem gemacht hatte, und ich fand das ziemlich deprimierend.
»Gehen Sie da links entlang«, sagte die Frau zu uns und beugte sich leicht vor, um uns den Korridor zu zeigen.
»Wartezimmer elf.«
»Danke.«
Wir gingen los. Wartezimmer elf war ein kleines,
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