Der 7. Tag (German Edition)
ich müsste Mutti vorwarnen. Im
Nachhinein frage ich mich, warum ich es nicht erst getan habe, wenn die
Katastrophe tatsächlich eingetreten wäre. Aber ich Idiot bin zu meiner Mama gelaufen
und habe geheult und geschrien.
Mami war ganz ruhig. Meine
kleine, geliebte, tapfere Mutter. Sie war ganz blass, spitznasig geworden in
den letzten Monaten. Sie setzte sich wortlos auf den Rand ihres geblümten
Sessels und starrte in den Garten.
„Jetzt kann man uns nichts
mehr wegnehmen, Bille, wir haben nichts mehr“, sagte sie. In all den Monaten
hatte sie nicht ein böses Wort über Michael gesagt. Sie hat keine Vorwürfe
gemacht, sie hat sich nicht beklagt. Jetzt rannen ihr die Tränen herunter. Ich
nahm sie in den Arm. Mein Gott, ja, ich habe dafür büßen müssen, dass ich mit
Michael Thalheim verheiratet war. Aber warum meine unschuldige Mutter. Sie
hatte uns ihr Erbe im Voraus vermacht und jetzt sollte sie auf ihre alten Tage
vielleicht noch heimatlos werden.
Mutti stand zitternd aus dem
Sessel auf, um sich in der Küche ein Glas Wasser zu holen. Ihr war schlecht.
Ich hörte, wie das Glas auf dem Küchenboden zerbrach. Ich rannte in die Küche,
Mutti lag auf dem Boden und krümmte sich. Ich war wie gelähmt.
„Mutti, schrie ich, Mutti!“
Mama stöhnte, ich hielt ihre
Hand und überlegte fieberhaft, wie ich sie hinlegen könnte. Dann lief ich zum
Telefon und versuchte, mich an die Nummer der Feuerwehr zu erinnern. Ich wählte
110 und schrie ins Telefon, Herzinfarkt, bitte schnell und nannte die Adresse.
Zuerst hörte ich den Funkwagen. Und dann landete direkt vor unserem Haus der
Hubschrauber. Sie holten Mutti mit einer Trage und brachten sie zum
Hubschrauber. Ob ich mitfliegen dürfe. Ich durfte nicht. Ich fuhr mit dem Auto
wie eine Wilde nach Steglitz. Mutti bekam noch im Hubschrauber Sauerstoff, sie
kam auf die Intensivstation des Klinikums Steglitz. Ich saß draußen und
wartete. Wieder die Panik, das Herzrasen, das Ohrensausen, der trockene Mund.
Und ich hatte geglaubt, nichts mehr zu fühlen. Dann haben Sie mich
hineingebeten. Ich saß neben ihrem Bett und hielt zitternd ihre Hand, die schon
ganz kalt war. Ob sie mich wohl noch gehört hat? Ich habe auf den Monitor
gestarrt wie ein Kaninchen auf die Schlange und wirres Zeug geredet. Dass sie
mich nicht verlassen darf, dass sie das einzige ist, was ich noch auf der Welt
habe. Als die Schnappatmung einsetzte, bin ich in Panik hinausgelaufen und habe
einen Arzt gesucht. Ich habe den jungen Assistenzarzt, der mir versuchte,
schonend beizubringen, dass meine Mutter nicht mehr aufwachen würde,
verprügelt. Ich bin auf ihn losgegangen wie eine Furie und habe mal wieder ein
ganzes Krankenhaus zusammengeschrien. Mutti starb noch in dieser Nacht. Auf dem
Monitor erschien das Wort: Entlassen.
Ich weiß eigentlich nicht,
wieso ich überlebt habe. Ich weiß auch nicht, wie ich nach Hause gekommen bin.
Und was ich anschließend getan habe. Wahrscheinlich habe ich mich einfach
schlafen gelegt. Ich war im wahrsten Sinne des Wortes todmüde.
Cosmos Ausgabe Nr.4/2010
Sybille Thalheim – Meine Geschichte –
3. Teil: Auf der Suche nach meinem Mann
Ich hatte alles verloren.
Zuerst meinen geliebten Mann, dann mein sehnsuchtsvoll erwartetes Baby, meinen
hart erkämpften Job, mein gesamtes Vermögen und zum Schluss meine wundervolle
Mutter. Zeit, ebenfalls zu gehen. Ja, ich wollte meinem Leben ein Ende
bereiten. Ich habe meine Ärztin und Freundin Gabi angerufen und sie gebeten,
mir ein Rezept für Valium vorbeizubringen. Ich würde die Tabletten horten und
dann ganz viele auf einmal schlucken.
Gabi und ihr Ehemann Ulli
kamen vorbei. Wir saßen in unserer großen Landhausküche am Tisch. Auf der
Fensterbank saß Alter Ego, ein Stoffbär, den mir Michael einmal geschenkt hatte,
als ich in Atlanta war. Der Stoffbär würde jetzt auf mich aufpassen, hatte
Michael damals zu mir gesagt. Ich hatte ihm geglaubt. Ich erzählte mit tonloser
Stimme vom Tod meiner Mutter und wie ich ihn durch mein unbedachtes Verhalten
herbeigeführt hatte. Gabi und Ulli hörten entsetzt zu. Gabi hatte den Arm um
mich gelegt und streichelte dabei meinen Rücken.
Danke Gabi, für Deine
Freundschaft, für Deine Anteilnahme.
Plötzlich überkam mich die
Wut. Ich wurde so wütend, wie ich es wohl vorher in meinem Leben noch nie war.
Ich griff mir den Stoffbären, nahm das Küchenmesser, das auf dem Tisch lag und
begann unkontrolliert auf Alter Ego einzustechen. Jedes Mal wenn ich
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