Der 7. Tag (German Edition)
brauchte einen fahrbaren Untersatz.
Ansonsten hatte ich genug zum Leben, jedenfalls mehr als die meisten meiner
neuen Nachbarn. Wenn ich die Fenster meiner Wohnung aufmachte, dann drangen
Gerüche nach verbrannter Pizza, nach Schimmel und Verzweiflung herein. Im Hof
spielten Kinder rund um die Mülltonnen Fußball und aus jeder Wohnung kam eine
andere Musik. Türkische, russische, vietnamesische. In jeder Etage waren
Satellitenschüsseln vor den Fenstern angebracht. Die Mieter, die über mir
wohnten, schlugen sich in schöner Regelmäßigkeit samstags gegen elf Uhr die
Köpfe ein. Die Polizei war Stammgast. Auch bei mir.
Immer noch erhielt ich Besuch
von Kommissar Warnke und seinen Kollegen. Irgendwann habe ich sie gefragt, ob
sie glaubten, dass man so mit 9,6 Millionen Euro auf dem Konto leben würde. Sie
haben gelächelt. Ich habe gedroht, dass ich den Kerl umbringen würde, wenn er
mir in die Finger käme. Trotzdem haben sie mich nicht in Ruhe gelassen.
Ulli hat sich in der
Zwischenzeit einen anderen Anwalt gesucht, mit dem er die Miete des feudalen
Büros Unter den Linden und die Personalkosten für Empfang und Buchhaltung
teilen konnte.
Das einzige, was mir in
Neukölln fehlte, war Frau Müller, unsere Katze. Ich hatte sie gefragt, ob sie
mitkommen wolle. Frau Müller hatte entschieden nein gesagt. Sie gehörte zu dem
Haus in Zehlendorf, das war ihre Heimat. Also habe ich bei den Nachbarn gegenüber
geklingelt, deren Grundstück an unseres grenzte. Ich hatte diese Leute noch nie
gesehen, weil ein dichter Wald aus Tannen, Eichen, Ahorn und die
Rhododendrenhecke die Sicht und den Kontakt zu den Nachbarn nahmen. Aber Frau
Müller streifte oft in diesem Garten herum, ich hatte gesehen, wie sie durch
ein Loch im Zaun neben dem Komposthaufen durchgeschlüpft war. Deshalb habe ich
die Nachbarn gebeten, Frau Müller zu versorgen. Es war ein älteres Ehepaar und
sie waren ziemlich pikiert. Von welcher Frau Müller ich denn reden würde. Nun,
sagte ich, eine kleine getigerte Katze mit schwarzer Stupsnase und schwarzen
Socken.
„Ja, aber das ist Sissy“, sagte
die Nachbarin. „Sissy gehört sowieso uns.“
Ach so. Ja, so lernt man
seine Nachbarn kennen.
Ab und zu unternahm ich
gemeinsam etwas mit Gabi, Ulli und ihren Zwillingen Nora und Lisa. Es lenkte
mich ab. Wenn ich nicht gerade die große weite Welt im Fernseher bestaunte,
dann saß ich in Muttis Lehnstuhl und grübelte. Wohin konnte Michael
verschwunden sein. Ich fing an, im Internet zu recherchieren. Lange genug war
ich von der Unschuld meines Mannes überzeugt gewesen, jetzt, nachdem ich alles
verloren hatte, versuchte ich, so schlecht von ihm zu denken, wie es mir
möglich war. Ich versuchte, mich in den Kopf eines Michaels hineinzuversetzen,
den ich nicht kannte.
Von einem war ich fest
überzeugt. Wenn dieser Mann mich verlassen hat, um mit 9,6 Millionen Euro
durchzubrennen, dann konnte nur eine andere Frau dahinterstecken. Immer wieder
fuhr ich nach Zehlendorf und ging alles durch, was die Polizei mir gelassen
hatte. Michaels Klamotten, Amex-Belege, Bewirtungsbelege, die
Steuererklärungen, alte Notizbücher, nichts, nichts, nichts.
Ab und zu habe ich den Garten
gegossen, der sich bald wieder in dem verwilderten Urzustand befand, in dem ich
ihn einmal vorgefunden hatte. Ein Mieter war auf die Schnelle nicht zu finden
gewesen, dazu war die Miete zu hoch und die wirtschaftlichen Zeiten zu unruhig.
Ich habe Gabi angefleht, Ulli auszuhorchen, ob er irgendwas von einer anderen
Frau wusste.
„Ulli sagt definitiv nein“,
übermittelte Gabi.
Ich habe immer wieder
versucht, den Freitag, an dem Michael verschwand, zu rekonstruieren. Ich habe
mögliche Zeugen befragt. Natürlich hatte man Michael gesehen. Das hatten sie
auch schon der Polizei gesagt. Aber ob das nun am siebzehnten August war, wer
kann das nach so langer Zeit noch sagen. In Begleitung einer Frau? Nein, nie.
Ich habe mir Michaels
Sekretärinnen (die ja bekanntlich immer die Geliebten sind) vorgenommen. Sowohl
Rita als auch die Schuchardt sind glücklich verheiratet. Nein, auch hier kein
Hinweis. Ob er denn irgendwelche Geschenke gemacht habe, Blumen habe schicken
lassen. Ebenfalls Fehlanzeige. Alle meine Recherchen liefen ins Leere.
Wenn ich nachts im Bett lag,
dann habe ich mir vorgestellt, wie ich ihn umbringen würde. Ich habe mir alle
Möglichkeiten überlegt, wie ich ihn schön langsam ins Jenseits befördern
könnte. Je länger mein Leben in Neukölln dauerte, desto größer wurde mein
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