Der 7. Tag (German Edition)
den Strich gegangen, hatten sich die Hände wund geputzt, um
ihre Kinder zu ernähren, hatten ihre Verzweiflung mit Alkohol oder Drogen
getötet, waren missbraucht worden und haben ihre Väter und später ihre Männer
als prügelnde, besoffene Schweine erlebt. Trotzdem hatte so manche der Frauen
hier mehr Herz und Ehrgefühl als die meisten der tollen Karrierefrauen, die ich
im Laufe meines Berufslebens kennen gelernt habe.
Aber für diese Frauen und
ihre Geschichten interessierten sich die Medien natürlich nicht. Ihre Gesichter
kannte man nicht aus dem Fernsehen, sie waren nicht Teil der Berliner
Gesellschaft, sondern Unsichtbare einer unsichtbaren Klasse. Die Verbrechen,
die die meisten, die hier einsitzen, begangen haben, waren kleine, billige
Verbrechen. Die meisten Frauen, die hier monatelang auf ihren Prozess warteten,
haben Waren im Wert von unter 600 Mark gestohlen. Und meist nicht mal für sich
selbst, sondern für ihre Kinder. Das sind Summen, für die sich fast jeder
Normalbürger nicht schämt, die Steuer oder die Versicherung zu betrügen. Und
ich habe immer geglaubt, die Welt sei gerecht.
Oh ja, ich war bescheiden
geworden in Pankow.
Der Staatsanwalt hat Anklage
erhoben, sie lautet auf vorsätzlichen Mord. Ich weiß nicht warum, aber
irgendwie hatte ich geglaubt, dass alles, was mir passiert war, mildernde
Umstände gegeben hätte. Ich hatte geglaubt, ein paar Jahre dafür zu bekommen.
Ulli hatte mich eines besseren belehrt. Das, was Michael mir angetan hat und
der daraus resultierende Vorsatz der Tötung führten dazu, dass es überhaupt
erst Mord wurde. Hätte ich Michael ohne Ankündigung und ohne Gründe das Messer
in den Bauch gerammt, wäre es Totschlag gewesen, darauf stehen fünf bis zehn
Jahre. Auf Mord wenigstens 15 Jahre bzw. lebenslänglich.
Wenn ich jemals aus dem
Gefängnis herauskommen wollte, sagte Ulli, sollte ich versuchen, den Vorsatz zu
verschweigen, was gar nicht so einfach war. Denn es gab genügend Zeugen, vor
denen ich meine Absichten kundgetan hatte, ja sogar gegenüber der Polizei hatte
ich gedroht, Michael zu töten.
Was mir zu Hilfe kam, war der
totale Blackout, den ich hatte. Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran
erinnern, zu Michael in sein Hotelzimmer geschlichen zu sein und ihm das
Küchenmesser 18mal in den Leib gerammt zu haben. Mein Gott, 18 Stiche, daran
muss man sich doch wohl erinnern.
Mord oder Totschlag, so
lautete also die Alternative oder unter dem Strich: Mindestens 15 Jahre oder
wenigstens fünf Jahre.
Ulli hatte mir klargemacht,
dass ich weiter dabei bleiben sollte, es nicht getan und es auch nicht
vorgehabt zu haben. Wir hatten uns darauf geeinigt, dass ich bei dem Prozess
nichts sagen und er die Beweisführung übernehmen würde. Und so sagte ich bei
dem Prozess gar nichts. Außer natürlich am ersten Tag meinen Namen und meine
Personalien, das brauchen sie im Prozess zur Feststellung der Person.
Nach sechs Monaten in
Untersuchungshaft begann im August mein Prozess.
Niemand hat herausbekommen,
wo das Geld, das Michael unterschlagen hatte, geblieben ist. Keiner wusste, was
Michael in Mahlow gemacht hat. Alles hatte sich auf mich gestürzt, weil alle
glaubten, wenigstens zu wissen, was ich getan hatte. Nur ich wusste es nicht.
Am ersten Prozesstag haben
sie mein Verbrechen vor mir und den staunenden Zuhörern ausgebreitet. Sie haben
mich angeschaut und sich gefragt, wie eine so elegante Lady so unappetitliche
Sachen gemacht haben kann. Ulli hat dann Zeugen aufgeführt, die meine
Verwirrung beeidet haben. Und Zeugen, die aussagten, wie betrunken ich gewesen
sei. War ich verwirrt? Nur weil ich nervös war und mein Essen nicht aufgegessen
hatte? Das eine war ja wohl normal, wenn man seinen verschwundenen Ehemann plötzlich
wiedersieht, das andere schmeckte einfach nicht.
Während der Prozesstage habe
ich Ulli beobachtet. Ich hatte Michael durch Ulli kennen gelernt, der damals
mein Geliebter gewesen war. Ulli machte seine Sache gut, sehr gut sogar.
Manchmal hatte ich das
Gefühl, mit dem Prozess überhaupt nichts zu tun zu haben. Es war so, als sei
ich eine Beobachterin, die später über den Prozess berichten soll. Ich habe mit
Spannung die Zeitungsberichte über den Prozess verfolgt. Aber eigentlich nicht,
weil ich wissen wollte, was sie über mich schrieben, sondern um zu schauen, wie
die Kollegen darüber berichteten. Deformation professionell.
Einige Zeugen haben mir sehr
wehgetan. Zum Beispiel meine ehemalige Putzfrau Irene Semmler.
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