Der 7. Tag (German Edition)
Probleme zu lösen.
Bald wurde ich für die
Frauen, die zum Teil nicht mal richtig lesen und schreiben konnten, so etwas
wie ihre Beraterin. Ich half ihnen Briefe zu schreiben und informierte mich für
sie über ihre Rechte.
Zum Schluss meiner Zeit in
Pankow habe ich sogar eine Freundin gefunden. Die praktische Babsi mit dem
blonden Pagenkopf war Krankenschwester. Sie hatte einen achtjährigen Sohn, den
sie abgöttisch liebte und ohne Vater großzog. Immer wenn die Spielstunden
angesetzt waren, war Babsi Stunden vor- und nachher in Tränen aufgelöst. Sie
hätte alles für ihr Kind getan. Um keine Nachtschichten mehr machen zu müssen,
hatte Babsi in einem Pflegeheim gearbeitet. Es ist nicht einfach, ein Kind ohne
Vater zu ernähren. Sie trug die Verantwortung für eine ganze Station: 15
Siechen, die gewaschen, gefüttert, gebettet und getröstet werden mussten. Und
als Hilfe eine kleine Schwesternschülerin, die zwar eifrig, aber völlig
unerfahren war.
An einem Freitag sagte sie
zur Schwesternschülerin, dass sie hoffe, dass die alte Dame in Zimmer 14 noch
vor dem Wochenende sterben werde. Die alte Dame war 99 und die Ärzte hatten sie
bereits seit Wochen aufgeben.
„Du musst wissen Bille,“
erklärte Babsi mir, „dass am Wochenende keine Ärzte und keine ausgebildeten
Schwestern da sind. Wenn also jemand stirbt, müssen alle zusammengetrommelt
werden.“
Die alte Dame konnte nichts
mehr essen, sie war schon ganz kalt. Also hat Babsi ihr die Hand gehalten und
ein bisschen heißen Kaffee eingeflößt. Danach hat sie Feierabend gemacht und
sich auf ihr freies Wochenende gefreut.
Die alte Dame verstarb in der
Nacht zum Samstag. Als Babsi am Dienstag wieder zur Arbeit erschien, wurde sie von
der Schwesternschülerin beschuldigt, die alte Frau ermordet zu haben. Auf
Wunsch der Familie wurde die alte Frau aufgeschnitten. Man fand Kaffee in ihrer
Lunge. Babsi wurde verhaftet und des Mordes angeklagt.
Babsis Junge ist Epileptiker.
Jetzt lebt er in einem Heim. Und dort wird er wohl noch einige Jahre bleiben,
denn Babsi ist zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt worden.
Und ich habe geglaubt, dass
es mir beschissen geht.
In der U-Haft hatte ich Zeit
genug gehabt, den Ablauf der Tage im Februar immer und immer wieder zu
durchdenken. Noch immer hatte ich keine Antworten auf meine Fragen bekommen.
Was hatte Michael in Mahlow gemacht? Wo war er in der Zwischenzeit gewesen? Was
war passiert? Warum hatte er mich verlassen, wozu hatte er so viel Geld gebraucht?
Auch während der sieben
Prozesstage war mein schönes Leben mit Michael wie ein Film an mir
vorbeigezogen. Erst jetzt hatte ich in vollem Umfang begriffen, dass ich eine
Privilegierte gewesen war. Ich hatte das Glück gehabt, einen Vater gehabt zu haben,
der mir eine Schaukel in den Apfelbaum hängte, eine Mutter, die mittags mit
handgedrehten Buletten auf mich wartete, einen Großvater, der mir von Thor
Heyerdahl erzählte und eine Oma, die mir Pippi Langstrumpf zum siebenten
Geburtstag schenkte. Ich hatte das Glück gehabt, unter meinen Begabungen wählen
zu dürfen und den Beruf zu erlernen, von dem ich immer geträumt hatte. Ich
hatte das Glück gehabt, einen gebildeten, humorvollen Mann zu treffen und mich
in ihn zu verlieben. Ich hatte das Glück gehabt, mir die Blusen kaufen zu
können, die mir gefielen und in die Länder reisen zu dürfen, nach denen ich
mich sehnte. Ich hatte so viel Glück gehabt in meinem Leben und kaum selbst
etwas dazu getan. Früher war all dieses Glück für mich selbstverständlich gewesen,
manchmal hatte ich sogar ein bisschen von oben herab auf die geschaut, die in
ihrem Leben weniger Glück gehabt haben.
Die, die weniger Glück gehabt
haben, habe ich zum ersten Mal in meiner Wohnung in Neukölln kennen gelernt.
Ich werde nie den Geruch in diesem Haus in Neukölln vergessen und die
Gemeinheiten, die meine Nachbarn sich gegenseitig um die Ohren hauten. Auch in
Neukölln gehörte die Verzweiflung zum Alltag. Und dann hier, in der
Justizvollzugsanstalt Pankow.
Was jammerst du eigentlich,
habe ich mich gefragt, du hast das verloren, was die anderen Frauen hier
niemals gehabt haben. Keine treusorgenden Eltern, die große Erbschaften
hinterließen, keine Wunschkinder, keine rührend besorgten Ehemänner, keine
Traumjobs mit sechsstelligem Jahresgehalt. Sie haben auch nicht ihre Villa in
Zehlendorf verloren.
Die Frauen, die hier auf
ihren Prozess warteten, hatten nicht selten weniger als das Existenzminimum
gehabt, waren auf
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