Der 8. Tag
sollten. Theorie ist eine Sache, doch… «
»Inzwischen ist es mehr als Theorie.«
»Sollten wir dann nicht irgendjemanden warnen?«
»Wen zum Beispiel?«
»Wer immer die Verantwortung für die weltweiten Computernetze hat, das heißt, wenn das Programm wirklich dort draußen herumgeistert.«
Tessa konnte ein bitteres Lachen nicht unterdrücken. »Niemand hat die Verantwortung. Es herrscht totale Anarchie, die aber notwendig ist, wenn die Benutzer Informationen so austauschen wollen, wie sie es brauchen. Außerdem, wenn wir eine Panik auslösen und das Ding bemerkt, dass man hinter ihm her ist, dann kann es noch gefährlicher werden als es schon ist.«
Es kehrte Stille ein. Der Hochgeschwindigkeitszug beschleunigte mit gleich bleibender Sanftheit durch eine ebene, uninteressante Landschaft. Tessa starrte aus dem Fenster und Helen beobachtete sie dabei. Schließlich bemerkte sie: »Was willst du also tun?«
Tessa schüttelte leicht den Kopf ohne die Richtung ihres abwesenden Blickes zu ändern.
»Ich weiß es nicht«, gab sie leise zurück. »Zuerst muss ich einmal nachdenken, versuchen dahinterzukommen, wie es denkt, und von da an dann weitermachen.«
23
DER SCHWERGEWICHTIGE SERGEANT in Uniform
wiegte sich beim Gehen wie jemand, der zu viele Cowboyfilme gesehen hatte, oder es war einfach nur der Versuch das Gewicht seines Bierbauches bei jedem Schritt von der einen zur anderen Hüfte zu verlagern. Es war die Sorte, die Tim Kelly nur zu gut kannte; so hätte sein alter Herr enden können, wenn er sich nicht zusammengenommen und selbst die Kraft gefunden hätte mit dem Trinken aufzuhören. Er beobachtete, wie die sommersprossigen Hände leicht zitternd versuchten den Schlüssel ins Schloss zu bekommen, doch diese Unsicherheit wurde schnell verdeckt und nur jemand, der einen Blick für solche Dinge hatte, hätte sie bemerkt.
Tim lernte immer mehr über solche Dinge. Er schloss mit sich selbst eine kleine Wette ab, dass er Pfefferminz in dem Atem des Polizisten riechen würde, wenn er an ihm vorbeiging, ein eindeutiger Hinweis auf eine Wodkaflasche, die in einer Schreibtischschublade oder einem Karteikasten versteckt war und aus der der Mann den Tag über routiniert immer wieder einen Schluck nehmen würde.
»In Ordnung, Kelly, kommen Sie her. Jemand will Sie sprechen.« Der Polizist öffnete die vergitterte Tür bis zu einem Winkel von neunzig Grad und wandte den Kopf über die Schulter zurück.
Tim kam steif auf die Beine und fuhr sich mit der Hand über die Bartstoppeln an seinem Kinn. Nachdem sie ihn überprüft hatten und langsam zu der Überzeugung kamen, dass er der war, der er zu sein behauptete, hatten sie ihm die Handschellen abgenommen. Er ging an dem Sergeant vorbei, auf den Korridor hinaus und stellte mit kalter Befriedigung fest, dass er mit dem Pfefferminzgeruch richtig gelegen hatte.
»Scheiße«, dachte er, »wer will mich denn sprechen?«
Sie gingen den schmalen Korridor hinunter, der Polizist hielt sich ein paar Schritte hinter dem Häftling, so wie es in den Vorschriften stand. Ein Geruch von Urin, Schweiß und Desinfektionsmittel brach über sie herein, der Tim übel werden ließ. Beim Vorbeigehen bemerkte er, dass fast alle der Zellen belegt waren. Ein kleiner, dürrer Mann in einem zerrissenen Smoking hielt sich an den Gitterstäben fest und wollte wissen, wo sein Anwalt bliebe. Der Polizist beachtete ihn nicht.
Nachdem sie durch ein paar weitere vergitterte Türen gekommen waren, befanden sie sich im eigentlichen Polizeirevier. Der Polizist grunzte Tim an vor einer Tür zu warten, auf der ›Captain Beatty‹ stand. Er klopfte und wartete, bis eine dumpfe Antwort kam, dann stieß er die Tür auf, ließ Tim eintreten und schloss sie wieder hinter ihm. Captain Beatty hatte kurz geschnittenes weißes Haar, helle blaue Augen und eine Adlernase, die gut zu jemandem in einer Toga gepasst hätte. Er saß hinter einem ungewöhnlich aufgeräumten Schreibtisch, alles war genau auf Kante ausgerichtet, und er trug seine Uniform kerzengerade sitzend mit unverhohlenem Stolz. Der Raum selbst hatte etwas Klösterliches an sich, zwei hohe, schmale Fenster gaben kaum genug Licht, sodass die elektrische Beleuchtung den ganzen Tag brennen musste. Tim war erleichtert die unordentlich gekleidete Gestalt von Jack Fischl, Hände in den Hosentaschen vergraben, hinter dem Stuhl des Captains stehen zu sehen.
»Das war ganz schön gerissen von Ihnen Ihren Freund, den Lieutenant hier, anzurufen«, begann
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