Der Afghane
der Spin Ghar, der Weißen Berge, beherrscht von dem fast viertausend Meter hohen Tora Bora.
Aus der Ferne sehen diese Berge aus wie eine mächtige Barriere zwischen den beiden Ländern, karg und kalt. Auf ihren Gipfeln liegt immer Schnee, und im Winter bedeckt er sie ganz.
Die Spin Ghar liegen in Afghanistan, das Gebirge namens Safed Koh erstreckt sich auf der pakistanischen Seite. Myriaden von Bächen führen das Wasser der Schneeschmelze und des Regens von den Spin Ghar in die fruchtbare Ebene von Jalalabad hinunter; sie bilden zahlreiche Hochlandtäler, in denen sich kleine Felder und Obstgärten anlegen lassen und Schaf- und Ziegenherden weiden können.
Das Leben hier ist hart, und weil alles Lebensnotwendige so spärlich vorhanden ist, sind die Siedlungen in diesen Tälern klein und weit verstreut. Die Menschen, die hier aufwachsen, kannte und fürchtete das alte britische Empire. Es nannte sie Pathanen, und heute heißen sie Paschtunen. Damals verteidigten sie ihre Felsenburgen mit der langen, messingbeschlagenen Muskete, dem Jezail, mit dem die Männer so zielgenau schießen konnten wie heutige Scharfschützen.
Rudyard Kipling, der Dichter des alten Empires, hat die tödliche Treffsicherheit der Bergbewohner im Kampf gegen die kostspielig in England ausgebildeten jungen Offiziere in nur vier Zeilen heraufbeschworen:
Ein Grenzgefecht nur, wie es schien,
Ein Ritt durch eine dunkle Schlucht,
Zweitausend Pfund Sterling Soldatenzucht:
Dahin vor'm Gewehr für zehn Rupien.
1972 gab es in einem dieser Hochlandtäler ein Dorf namens Maloko-zai. Wie alle diese Dörfer war es nach einem längst gestorbenen Krieger benannt, der es gegründet hatte. Es bestand aus fünf ummauerten Anwesen, in denen jeweils eine Großfamilie von etwa zwanzig Personen wohnte. Das Dorfoberhaupt hieß Nuri Khan, und in seinem Anwesen, an seinem Feuer, versammelten sich eines Abends im Sommer die Männer, um heißen Tee ohne Milch und Zucker zu trinken.
Wie bei allen diesen Anwesen waren Wohnräume und Ställe nach innen gerichtet an die äußere Mauer gebaut. Das Feuer aus Maulbeerholzscheiten loderte, während weit im Westen die Sonne unterging und die Berge sich in Dunkelheit hüllten. Selbst im Hochsommer wurde es jetzt kühl.
Die Schreie aus den Räumen der Frauen klangen gedämpft herüber, aber wenn sie doch einmal lauter wurden, unterbrachen die Männer ihr Geplauder und warteten ab, ob es etwas Neues gab. Nuri Khans Frau brachte ihr viertes Kind zur Welt, und ihr Mann betete zu Allah um einen zweiten Sohn. Es war nur recht und billig, dass ein Mann Söhne hatte, die seine Herden hüteten, wenn sie jung waren, und das Dorf verteidigten, wenn sie Männer geworden waren. Nuri Khan hatte einen achtjährigen Sohn und zwei Töchter.
Es wurde dunkel, und nur die Flammen beleuchteten die Gesichter mit den Adlernasen und den schwarzen Bärten, als eine Hebamme aus den Schatten gelaufen kam. Sie flüsterte dem Vater etwas ins Ohr, und auf seinem mahagonifarbenen Gesicht erstrahlte ein Lächeln.
»Allahu akhbar! Ich habe einen Sohn!«, rief er. Seine männlichen Verwandten und Nachbarn sprangen auf, und es krachte und knatterte, als sie mit ihren Gewehren in den Nachthimmel schossen. Es gab endlose Umarmungen und Gratulationen und Danksagungen an den barmherzigen Allah, der seinem Diener einen Sohn geschenkt hatte.
»Wie wirst du ihn nennen?«, fragte ein Hirte aus der Nachbarschaft.
»Ich nenne ihn Izmat, nach meinem eigenen Großvater, möge seine Seele in Frieden ruhen in Ewigkeit«, sagte Nuri Khan. Und so geschah es, als ein paar Tage später ein Imam ins Dorf kam, um den Jungen zu taufen und zu beschneiden.
Das Kind wuchs auf wie alle anderen. Als es krabbeln konnte, krabbelte es, und als es laufen konnte, lief es wie der Blitz. Wie die meisten Jungen auf dem Land wollte er tun, was die größeren Jungen taten, und als er fünf war, ließ man ihn mithelfen, die Herden auf die hoch gelegenen Weiden zu treiben und zu hüten, während die Frauen Futter für den Winter schnitten.
Er sehnte sich danach, aus dem Frauenhaus hinauszukommen, und es war der stolzeste Tag seines bisherigen Lebens, als er sich endlich zu den Männern ans Feuer setzen und ihnen zuhören durfte, wenn sie erzählten, wie die Paschtunen vor hundertfünfzig Jahren die rotberockten Anglies aus diesen Bergen vertrieben hatten, und sie erzählten es, als sei es erst gestern gewesen.
Sein Vater war der reichste Mann im Dorf – so, wie ein Mann reich sein
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