Der Agent - The Invisible
meinen Bruder. Er ist schwer verletzt …« Er brabbelte weiter vor sich hin, während er zur Hinterseite des Lieferwagens ging und die Hand nach dem Türgriff ausstreckte. »Er wurde angefahren. Ich habe es gesehen, aber das Auto fuhr weg, bevor ich etwas unternehmen konnte. Ich wollte nicht auf einen Krankenwagen warten. Bitte, helfen Sie mir …«
Craig trat instinktiv weiter vor, obwohl irgendwo in seinem Hinterkopf die Alarmglocken schrillten. Hätte er ein bisschen länger nachgedacht, wäre ihm aufgefallen, dass alles äußerst merkwürdig war. Der Eingang der Notaufnahme war auf der anderen Seite des Parkplatzes und gut zu erkennen. Ein Mann mit einem Verletzten im Wagen wäre normalerweise so dicht wie möglich an die Notaufnahme herangefahren. Leider dämmerte ihm die Wahrheit zu spät. Als die Hintertür des Lieferwagens sich öffnete, trat er näher, um besser sehen zu können, und er erstarrte, als er sah, dass auf der Ladefläche nur ein Reservereifen und ein paar schmierige Decken lagen.
Plötzlich packte ihn jemand von hinten. Derselbe Mann,
der ihn angesprochen hatte, hielt ihn jetzt fest. Zumindest versuchte er es. Er war deutlich kleiner und leichter als Craig, aber trotzdem kräftig und entschlossen. Craig rief nach Hilfe und wollte sich wehren, doch als er sich fast freigemacht hatte, schien sein Kopf vor Schmerz zu explodieren. Er begriff gerade noch, dass man ihn mit einem harten Gegenstand geschlagen hatte. Seine Beine gaben nach, und er sackte nach vorn. Jemand zischte auf Urdu einen Befehl, und er nahm gerade noch undeutlich wahr, dass sich ein anderer von rechts näherte und ihn auffing. Dann überkam ihn Finsternis. Es gab keine Gedanken mehr, und an die Stelle des Schmerzes trat ein großes Nichts.
22
Cartagena, Spanien
Es war kurz nach neun abends, als Kealey abrupt aufwachte. Langsam nahmen die Dinge um ihn herum Kontur an. Er lag noch einen Moment still da und versuchte, die Teile des Puzzles zusammenzusetzen, doch dann kam die Erinnerung zurück. Er setzte sich auf die Bettkante, rieb sich den Schlaf aus den Augen und hörte von draußen leise Stimmen und das Rauschen des Windes, der die farbenfroh gemusterten Vorhänge vor der offenen Balkontür bauschte.
Er stand auf, trat auf den Balkon und stützte die Hände auf das hüfthohe Geländer. Die Nacht hatte sich über die Landschaft gesenkt, aber der Garten unter ihm wurde durch Lichter an seiner Peripherie beleuchtet. Er wirkte sehr gepflegt, und eine dichte Reihe von Feigenbäumen schirmte ihn vor neugierigen Blicken von der Straße ab.
Die Bäume wiegten sich in der kühlen, salzigen Abendbrise, die vom Mittelmeer kam, das gerade mal anderthalb Kilometer weiter östlich begann. Hohe Kiefern standen vor einem schmiedeeisernen Zaun, der einen großen, gepflegten Rasen umgab. Obwohl es dunkel war, wirkte das Gras in dem weißen Licht so grün wie am Tag.
In der Mitte des Rasens stand ein weißer Metalltisch, an dem zwei Frauen saßen. Eine war etwa Mitte fünfzig, und ihr dunkles, schulterlanges Haar war leicht angegraut, doch ansonsten wirkte sie jünger. Ihre Haut war hell, und sie hatte
praktisch keine Falten. Sie trug eine braune Hose und eine grüne Strickjacke.
Die andere Frau war Marissa Pétain. Ihr dunkelbraunes Haar war feucht und schimmerte im Mondlicht. Sie trug eine beigefarbene Bluse und eine zerknitterte Baumwollhose. Andere Kleidung als jene, die sie bei der Ankunft angehabt hatte. Offenbar hatte sie sich die Zeit genommen, zu duschen und sich umzuziehen. Die beiden unterhielten sich leise auf Französisch, doch von dem Balkon aus konnte Kealey fast nichts verstehen. Plötzlich blickte Pétain zu ihm auf, als hätte sie seine Anwesenheit gespürt. Sie lächelte und winkte ihm zu, doch bevor er reagieren konnte, hörte er hinter sich ein leises Klopfen. Als er sich umdrehte, öffnete sich die Tür einen Spaltbreit, und silbriges Licht fiel in das Zimmer.
»Kealey? ¿Está despierto?« Sind Sie wach?
»Ja. Kommen Sie herein.« Die Tür öffnete sich ein bisschen mehr, und ein großer Mann mit dunkler Haut, buschigen Augenbrauen und langem, stahlgrauen Haar stand in der Tür und verdeckte das aus dem Flur kommende Licht. Javier Machado, 1937 in Valencia geboren, hatte schon an der Autonomen Universität von Barcelona ein Studium abgeschlossen, bevor er in die Vereinigten Staaten ging, wo er an der University of Southern California einen Master in Wirtschaftswissenschaften machte. Anschließend promovierte er in
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