Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
war, und zwar um Mitternacht, weil wir so spät mit dem Kochen angefangen und so viel gelacht haben und uns für jede Zutat ein philosophisches Rätsel ausgedacht haben. Danach wusste ich, wie man jede Suppe auf der ganzen Welt kocht. Man wirft einfach Sachen in einen Topf, bis es schmeckt.«
»Unfassbar, dass du mir diese Geschichte erst jetzt erzählst«, sagte Sam.
»Das ist nic ht so leicht, Sam. Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber es fällt mir immer noch keinen Deut leichter. Du hast einen langen, steinigen Weg vor dir. Es gibt viele Möglichkeiten, ihn zu meister n, aber die tun alle gleich weh, weil man den Menschen, den man verloren hat, hinter sich lassen und nach vorne blicken muss.«
»Nicht alle«, widersprach Sam.
Sams Vater schüttelte den Kopf und schwieg. Dann sagte er: »Man behält nicht viel zurück. Man behält nur, was sie einem beigebracht haben. Das ist eigentlich alles.«
Am nächsten Morgen flog er zurück an die Ostküste, nicht etwa weil er überzeugt gewesen wäre, dass Sam allein zurechtkam, sondern weil seine Anwesenheit offensichtlich nicht das Geringste änderte. Vielleicht hoffte er sogar, dass seine Abwesenheit etwas änderte, aber das war nicht der Fall. Am Montagnachmittag brachte Sam die Suppe zu Penny hinunter und stellte sie in ihr Gefrierfach.
»Mit der Zeit wird es leichter«, sagte sie. »Man denkt zwar, es wird nie leichter, und will auch nicht, dass es leichter wird, aber es wird leichter, und das ist auch g ut so. Irgendwann ist man bereit dazu, und dann macht es einem nicht mehr so viel aus.«
»Du hast leicht rede n«, antwortete Sam gereizt.
Sie wirkte bestürzt, ließ sich aber nicht unterkriegen. »Ich hatte ihn länger, weißt du. Versuch mal, ohne jemanden zu leben, mit dem du einundsechzig Jahre verbracht hast.«
Einundsechzig Jahre. Sam hätte seine Seele für eine einzige Woche verkauft.
»Warum glaubst du, ich hätte leicht reden?«, drängte Penny.
Weil er dich nie geliebt hat. Weil du nie hattest, was vermeintlich dir gehört hat. Weil es eigentlich überhaupt kein Verlust ist, so einen Mann zu verlieren. Weil er alt war und alte Menschen nun mal sterben. Weil du immerhin einundsechzig Jahre hattest und ich meine Seele für eine einzige Woche verkaufen würde, dachte Sam, hielt jedoch den Mund. Eine sechsundachtzigjährige Frau zu verletzen machte es auch nicht besser. Das war die Sache nicht wert.
»Lass dir die Suppe schmecken«, sagte er. »Wenn es einen Suppengott gäbe, wäre es mein Vater.«
Dash wollte bleiben, aber Sam schickte ihn für ein paar Tage nach L. A. zurück, weil er Zeit für sich brauchte. Der Salon musste dennoch jeden Morgen geöffnet und den ganzen Tag betreut werden. Jemand musste die Kunden anleiten und ihnen die Anwendung erklären, musste sie freischalten und ihnen den Einführungsvortrag halten, musste Händchen halten und Tee servieren, Projektionen löschen und neu starten, t rösten und beruhigen. Gleich am ersten Morgen, nachdem Sam den Salon wieder aufgemacht hatte, sprudelte plötzlich alles auf einmal aus Kylie Shepherd heraus, die bereits fünf Video-Chats mit ihrem verstorbenen Freund geschafft hatte, ohne auch nur einen Mucks von seinem Tod zu sagen: Dass sie zusammen bei einem Open-Air-Konzert gewesen seien, als ihn plötzlich aus heiterem Himmel ein Blitz getroffen habe, dass sie ohne ihn völlig verloren sei, dass sie wahnsinnig werde vor Einsamkeit. Nachdem sie sich ausgeloggt hatte, kam sie mit hängendem Kopf zu Sam.
»Tut mir leid«, flüsterte sie. »Ich brauche einen Löschvorgang.«
»Ich glaube, Sie halten den Rekord«, sagte Sam freundlich. »Fünf Sitzungen sind ganz schön lange.«
»Ich weiß, wie wich tig es ist, dass man nichts sagt. Aber Sie wissen ja gar nicht, wie schwer das ist.«
»Doch« , antwortete Sam. »Und ob ich das weiß.«
»Einerseits fühle i ch mich schlecht, weil es mir rausgerutscht ist«, gestand sie. »Aber andererseits geht es mir auch ein bisschen besser.«
Sie umarmten sich lange. Dann löschte Sam ihre Projektion und startete sie neu.
»Bis morgen«, verabschiedete sich Kylie Shepherd mit einem schwachen Winken und einem halben Lächeln, während sie und Sam sich durch ihre bitteren Tränen hindurch anblickten.
Um acht machte Sam den Salon zu und ging nach oben, wo er beschloss, dass er bereit für einen zweiten Versuch war.
»Sam!« Wieder freute sich Meredith riesig, ihn zu sehen. »Nie rufst du mich an!«
»Na ja, wir wohnen ja zusammen«,
Weitere Kostenlose Bücher